Die berühmtesten Fluchten aus dem Gulag

Geschichte
RUSSIA BEYOND
Das Lagersystem des Gulags war eines der härtesten der Welt. Unmenschliche Bedingungen, Folter und auszehrende tägliche Arbeit trieben viele Gefangene zu Fluchtgedanken. In der Geschichte gab es nicht viele erfolgreiche Fälle, aber einige schafften es dennoch.

Die Lager-Spartakiade

Der berühmte russische Publizist Iwan Solonjewitsch wurde unter wegen des Fluchtversuchs aus dem Land verurteilt und in den Gulag geschickt. Zusammen mit seiner Frau Irina und seinen beiden Söhnen Jurij und Boris hatten sie die Grenze zu Finnland überqueren wollen, wobei sie sich als Jagdtouristen ausgaben. Eine solche Tarnung war notwendig, um in die schwer zu durchquerenden karelischen Wälder zu gelangen, denn dort gab es mehr Möglichkeiten, die Grenze unentdeckt zu passieren. Der erste Fluchtversuch scheitere jedoch – Iwan zog sich eine schwere Erkältung zu und konnte den Fluchtversuch nicht fortsetzen. Die Familie musste nach Hause zurückkehren. Auch der zweite Versuch scheiterte – Jurij hatte eine Blinddarmentzündung.

Die dritte Flucht wurde sehr viel sorgfältiger geplant. Die Familie Solonjewitsch, ihre Freunde E. Prschijalgowskaja und S. Nikitin, wollten im September 1933 die Grenze zu Finnland überqueren. Angeblich wollte Prschijalgowskajas Liebhaber Nikolai Babenko ebenfalls mit ihnen fliehen, doch der entpuppte sich als Informant der Behörden.

Er schwärzte alle Teilnehmer an, worauf sie verhaftet wurden. Die gesamte Familie Solonjewitsch wurde für acht Jahre in das Arbeitslager Belomorsko-Baltijskij Kombinat in Karelien geschickt.

Iwan musste während seiner Zeit in den Arbeitslagern in verschiedenen Berufen arbeiten, wurde aber schließlich Sportlehrer. Diese Tätigkeit war einer der Faktoren, die ihm später die Flucht ermöglichten.

Eines Tages schlug Solonjewitsch der Lagerleitung vor, eine lagerübergreifende Spartakiade zu organisieren, die er angeblich veranstalten wollte. Der Lagerführung gefiel der Plan, also erweiterten sie seine Befugnisse und erlaubten ihm, frei zwischen mehreren Lagern zu reisen. Er imitierte eine hektische Betriebsamkeit, studierte aber in Wirklichkeit die möglichen Routen und bereitete seine Flucht vor.

Die Flucht begann mit der Anmeldung von „Dienstsreisen“. So konnten Iwan und seine Söhne für eine Weile aus dem Blickfeld der Tschekisten verschwinden. Am 28. Juli 1934 verließen Iwan und Jurij das Lager im Abstand von drei Stunden und trafen sich an einem vereinbarten Ort. Boris war drei Tage zuvor geflohen und befand sich bereits auf dem Weg in die Freiheit. Vater und Sohn machten sich auf den Weg in Richtung des Dorfes Koikiri, von wo aus sie die finnische Grenze erreichen konnten. Das war ihre letzte Chance: Auf die Flucht aus der UdSSR stand zu dieser Zeit die Todesstrafe.

Ihre Reise hätte acht Tage dauern sollen, aber die rauen Wälder Kareliens zwangen die Flüchtlinge, sich vorsichtig fortzubewegen. Erst am sechzehnten Tag erreichten sie die Grenze, und nachdem sie diese überquert hatten, erfuhren sie von den örtlichen Grenzbeamten, dass Boris die Grenze zwei Tage zuvor passiert hatte. Die Familie durfte nach Finnland einreisen. Das Schicksal seiner Frau blieb unbekannt.

Flucht von den Solowjezkij-Inseln

Das SLON (Solowjézkij láger osábennowo nasnatschénija, dt.: Sonderlager Solowjezkij) war eines der unzugänglichsten Lager des Gulag-Systems. Es befand sich auf dem Solowjezkij-Archipel, das vom Weißen Meer umgeben war. Um die Inseln herum war das Wasser immer sehr kalt und unruhig – selbst im Juli stieg die Wassertemperatur nicht über 7 Grad Celsius. Es schien unmöglich, von einem so isolierten Ort zu entkommen, aber es gab einen Mann, der es geschafft hat.

Soserko Malsagow wurde im Januar 1924 in das SLON eingeliefert. Zuvor hatte er während der Oktoberrevolution auf der Seite der Weißgardisten gekämpft und wurde daher nach dem Sieg der Roten, wie viele andere „Weiße“, auf die Fahndungsliste gesetzt. Soserko floh in die Türkei, aber da er dem Erlass der Behörden der RSFSR glaubte, alle Weißgardisten zu begnadigen, kehrte er in sein Heimatland zurück und wurde umgehend verhaftet.

Nach nur einem Jahr Gefangenschaft gelang ihm zusammen mit seinen Kameraden die Flucht über die finnische Grenze. Am 15. Mai wurden Soserko und andere Mitverschworene zu Sägewerksarbeiten auf das Festland geschickt. Auf ein vorab vereinbartes Signal entwaffneten sie die Eskorte und konnten entkommen. Sie fuhren in Richtung Norden, aber sie konnten nicht verschnaufen – sie wurden verfolgt und es wurde auf sie geschossen. Soserko und die anderen Flüchtigen mussten das Feuer erwidern, um ihren Verfolgern zu entkommen.

„In den ersten Tagen liefen wir fast ununterbrochen 24 Stunden lang... Doch schon bald forderte die Müdigkeit ihren Tribut. Es gab keine Straßen, unser Weg führte über nassen Boden, der mit einer dicken niedrigen Vegetationsschicht bedeckt war, und durch endlose Sümpfe“, so beschrieb Soserko ihren Weg in die Freiheit.

Ende Juni überquerten er und seine Kameraden die finnische Grenze, von wo aus sie bereits in andere europäische Länder auswandern konnten. Später schrieb Soserko das autobiografische Buch Àdskij óstrow (dt.: Hölleninsel), in dem er die Schrecken des SLON, die erfolgreiche Flucht und sein anschließendes Leben detailliert beschrieb.

Weit hinter dem Polarkreis

1930 wurde der Zoologe Wladimir Tschernawin aufgrund von Indizien verhaftet. Er wurde beschuldigt, Fischkonserven bei der Herstellung vorsätzlichen verdorben zu haben, und in das Lager auf den Solowjezkij-Inseln verbannt. Seine Frau wurde ebenfalls verhaftet, um psychologischen Druck auf den Gefangenen auszuüben und ihm ein Geständnis zu entlocken.

Später gelang es ihm, eine Verlegung auf das Festland in ein Lager in der Stadt Kemj zu erreichen. Dort bekam er in der Fischzucht des Lagers eine Tätigkeit in seinem Fachgebiet zugewiesen. Tschernawin hätte seine Strafe auf diese Weise abgesessen, wenn er nicht erfahren hätte, dass seine Frau aus dem Gefängnis entlassen worden war. So beschloss er, die Flucht seiner gesamten Familie zu organisieren, nicht nur aus dem Gulag, sondern aus der UdSSR.

Er reiste aufgrund seiner Tätigkeit oft ohne Wachen zwischen den Lagern hin und her, um geeignete Orte für das Fischereigewerbe auszuwählen. Gleichzeitig dachte er über eine mögliche Fluchtroute nach. Er erkannte, dass die nördlichen unerforschten Wälder ein ausgezeichneter Ort für die Flucht waren, da die Tschekisten sich dort nicht orientieren konnten.

Im August 1932, als seine Frau und sein Sohn ihn wieder einmal besuchten, floh Tschernawin mit ihnen aus der Stadt Kandalakscha.

„Ich floh aus der Strafkolonie und riskierte dabei das Leben meiner Frau und meines Sohnes. Ohne Waffen, ohne warme Kleidung, in schrecklichen Schuhen, fast ohne Nahrung. Wir überquerten den Meerbusen in einem löchrigen, von mir geflickten Boot. Wir legten Hunderte von Werst zurück, ohne Kompass und Karte, weit hinter dem Polarkreis, durch unwirtliche Berge, Wälder und schreckliche Sümpfe“, so beschrieb er später ihren Weg zur finnischen Grenze in dem Buch Sapíski wredídjelja (dt.: Aufzeichnungen eines Schädlings).

Die Reise bis zur Grenze dauerte 22 Tage. Später ließ sich die ganze Familie in Großbritannien nieder.

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