Im Bann des Terrors: Die Geschichte der Warwara Karaulowa

Warwara Karaulowa am Flughafen in Istanbul.

Warwara Karaulowa am Flughafen in Istanbul.

TASS
Die Studentin Warwara Karaulowa steht unter Terrorverdacht. Sie habe versucht, sich dem IS anzuschließen, sei möglicherweise eine Anwerberin gewesen. Ihr Umfeld ahnte nichts von ihrem Wandel. RBTH erzählt ihre Geschichte und begibt sich auf die Suche nach einem Motiv.

Eine unerwartete Wendung im Fall von Warwara Karaulowa: Im Frühling dieses Jahres unternahm die Studentin der Moskauer Lomonossow-Universität den Versuch, sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen, wurde aber an der türkischen Grenze rechtzeitig festgenommen. Nun sitzt die 19-Jährige in Untersuchungshaft. „Vorbereitung auf die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ lautet die Anklage, auf die eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren steht. Am gestrigen Dienstag wurde sie nun zudem wegen dem Vorwurf des Terrorismus angeklagt – ihr Beitrittsversuch zum IS rechtfertige dies. Medienberichten zufolge entdeckten Ermittler zudem einen Briefwechsel Warwaras mit einem IS-Kämpfer. Der Verdacht, sie sei eine Anwerberin weiterer Kämpfer, erhärtet sich. Wie aber konnte eine Frau aus einer wohlhabenden Familie – ehrgeizig, gebildet und sprachbegabt – zum Opfer der Terror-Anwerber werden?

Eine gefallene Musterschülerin

Warwara ist wohl eine, die man zurecht Wunderkind nennen darf. Sie gewann nationale Schülerwettbewerbe, schloss die Schule mit einer goldenen Medaille ab und bestand problemlos die Aufnahmeprüfung für das Kulturologie-Studium an der philosophischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität. Jungs, Mode und Kosmetik waren nicht ihrs. „Mit langem Rock, T-Shirt und zugeknöpft – so lief sie herum. Zeigte jemand Interesse an ihr, sagte sie: Das ist doch sinnlos. Ich gefalle ihm, er mir aber nicht“, erinnert sich eine ehemalige Mitschülerin und gute Freundin Warwaras, die nicht genannt werden möchte. In der Schule ging sie mit Gleichaltrigen ganz normal um. An der Uni änderte sich dies. Vom ersten Semester an hielt sie ihre Kommilitonen für „Idioten“ und zog es vor, allein zu bleiben. Was in ihrem Leben vor sich ging, wusste nahezu niemand.

Über Warwara reden die Studierenden nicht gern: Der Vorfall schockierte sie und ihre Dozenten. Sie sind um den Ruf der Fakultät besorgt und raten dazu, den Umgang mit Journalisten auf ein Minimum zu begrenzen. Laut dem stellvertretenden Dekan der philosophischen Fakultät Alexej Kosyrew fiel die junge Frau vor dem Hintergrund anderer Studierender überhaupt nicht auf. „Sie war ein stilles, ordentliches Mädchen; zeigte gute Leistungen. Anzeichen für ihr Interesse am Islam sah ich nicht. Und sie gab es auch nicht“, sagt er in einem Gespräch mit RBTH.

Doch die Anzeichen verdichteten sich – im September 2014, als Warwara sich für einen Arabisch-Kurs anmeldete. Von da an trug sie ein Kopftuch, ihre Kommilitonen erkannten darin einen Hidschab. Doch das Interesse am Arabischen und ein Hidschab erregen an einer Fakultät mit Angehörigen unterschiedlicher Religionen kaum Aufmerksamkeit. Kurz vor ihrer Flucht nach Syrien änderte Warwara in einem Nachrichtendienst ihren Namen in Amina um – nach der Mutter des Propheten Mohammed. Es war ein weiteres Signal, das niemandem auffiel. Am 27. Mai dieses Jahres verschwand sie. Zuhause ließ sie die Symbole ihres orthodoxen Glaubens zurück: einen Ring und eine Halskette mit einem Kreuz. Ihre Freunde sagen, zuvor habe sie diese niemals abgenommen.

Buße ohne Besserung

Warwara zurückzubringen, dauerte nicht lange. Ihr Vater hatte gute Beziehungen zum Geheimdienst und dem russischen Außenministerium. „Sie ist vielseitig gebildet. Und die Sprachkenntnisse ermöglichen es ihr, Originalquellen zu lesen, auch auf Arabisch“, sagt Pawel Karaulow. Eben deshalb habe man dem Koran im Haus und dem Interesse am Islam nicht gleich Bedeutung beigemessen. Zumal sie sich auch für andere Glaubensrichtungen interessiert habe. Als Warwara verschwand, halfen die Beziehungen. Die Spuren führten in die Türkei. „Als ich ihr hinterherfuhr, dachte ich unter anderem, dass sie zu einem Fest in die Türkei gefahren war, um in die Welt des Islams einzutauchen“, sagt er.

Warwara wurde von Grenzbeamten festgenommen, zusammen mit weiteren Russen. Doch um ein Fest ging es nicht. „Sie war verliebt – das war ihr Motiv. Es war ihr einziger Freund, einen anderen hatte sie nie. Und sie kommunizierten ausschließlich über das Internet. Inzwischen ist es so gut wie sicher, dass es ein erfundenes Profil war, von mehreren Personen erschaffen“, sagt ihr Vater. Von Warwaras Kommilitonen erfuhr RBTH, dass sie vorher bereits einen Freund hatte. Sie besuchten gemeinsam den Arabisch-Kurs, bis sie ihn verließ. Nach Angaben ihres Vaters soll Warwara nach ihrem misslungenen Fluchtversuch gesagt haben: „Bitte, nehmt mir einfach alles weg. Falls ich etwas brauche, werde ich darum bitten.“ Sie habe zwar weiter online Nachhilfe in Französisch gegeben, aber ausschließlich in Anwesenheit ihrer Mutter.

Erfolg und Einsamkeit

Dass Warwara auch nach ihrer Rückkehr weiterhin mit ihrem Geliebten aus dem IS in Kontakt stand, wusste in der Familie, wie Verwandte berichten, niemand. Der Vater hält die Festnahme für „einen tragischen Fehler“. Alexander Karabanow war Rechtsanwalt der Studentin, bis sie ihm gestern nach Verlesung der Anklage das Mandat entzog. Er meint, die junge Frau sei seinem Eindruck nach die beste Kandidatin für die Verbreitung der IS-Propaganda unter gebildeten jungen Leuten gewesen. Die ganze Zeit hindurch sei sie von Geheimdiensten beobachtet worden: „Derart wichtige Zeugen stehen immer unter Beobachtung. Rein körperlich ist sie zwar zurückgekehrt. Ihren Kopf vom Unsinn zu befreien, ist den Psychologen aber leider misslungen. Es wäre gut, festzustellen, inwiefern sie überhaupt verstand, was sie tat.“

Was geschah mit der jungen Frau? Es sei ein Protest, eine verspätete postpubertäre Krise, meint eine Kommilitonin. Mit 15 Jahren habe Warwara weder Partys, noch Diskos, noch Übernachtungen bei Freundinnen gekannt. Schule, Sport, ständiger Prüfungsstress und der Wunsch nach ständigem Erfolg, dazu die Einsamkeit – das sei alles gewesen, was sie gehabt habe. Nach Auffassung des Vaters wurden ihr eine „irrationale Gutgläubigkeit“ und ihr Sanftmut zum Verhängnis. Nach der Aufnahmeprüfung habe sie ihn um ein Geschenk gebeten. Sie bat nicht etwa um Schmuck, ein Smartphone oder ein Auto: „Nein, sie wollte einen Welpen aus dem Tierheim. Ein Mensch wie sie kann beim Leid anderer nicht einfach wegsehen. Das wird schonungslos ausgenutzt.“ Kosyrew, stellvertretender Dekan der philosophischen Fakultät, wundert sich: „Hat sie die islamistischen Hinrichtungen, wenn Menschen Köpfe abgeschnitten werden, im Internet nicht gesehen? Ich denke, das hat sie sehen können. Und trotzdem hat sie mit diesen Menschen kooperiert.“

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