Warum viele Russen von ihren Kindern besessen sind

Für viele Familien in Russland stehen die Kinder im Mittelpunkt.

Für viele Familien in Russland stehen die Kinder im Mittelpunkt.

Boris Babanov / RIA Novosti
Für viele russische Familien stehen ihre Kinder im Mittelpunkt. Bei dieser Art von Erziehung ordnen sich alle Familieninteressen dem Kind unter. Dies war allerdings nicht immer so.

In den russischen sozialen Netzwerken sieht man oft seltsame Dinge. So findet man das Profil eines 40 Jahre alten Mannes, dessen Profilbild einen Knirps in gestreiften Hosen zeigt. Auf dem Profil einer 36-jährigen Hausfrau findet man das Foto eines Jungen mit Brille, der einen Delfin umarmt. Solche Fotos sprechen für sich: Alle Gedanken der Erwachsenen liegen bei ihren Kindern. „Kinderzentrismus“ – so nennen Experten dieses Phänomen und bezeichnen es als eine besondere Art der Erziehung, bei der das Kind die Spitze der Familienhierarchie einnimmt.

„Die Kindheit wird in Russland als ein absoluter Wert verstanden, der den Ursprung für positive Emotionen und Erfahrungen darstellt“, sagt Weronika Turgel, Dozentin des Instituts für Kindheit an der Russischen Staatlichen Pädagogischen Herzen-Universität, in der Zeitschrift „Ogonjok“.

Das Phänomen ist noch nicht alt

Russland kam über einen gewundenen Pfad zum Kinderzentrismus. Das Level der Loslösung von den eigenen Kindern, das nach der Oktoberrevolution 1917 erzeugt wurde, sollte selbst die Zeiten des Mittelalters übertreffen. Die ersten Frauen in der Regierung nahmen an, dass Menschen, nicht ungleich den Bienen, ihre Kinder in die Obhut von Kinderkommunen abgeben müssten, um die Frauen von der „Sklaverei“ der Mutterschaft zu befreien. Es wurde jedoch recht schnell klar, dass dies wirtschaftlich nicht zu realisieren war. Stattdessen entstand ein militarisiertes Erziehungssystem, das die militarisierten Erwachsenenvereinigungen nachahmte und den Teilnehmenden keine Wahl ließ.

Die Familie sei für den sowjetischen Staat zunächst ein feindliches Element gewesen, sagt die Professorin Oksana Kutschmajewa. Mütter mussten so schnell wie möglich in die Arbeitswelt zurückkehren, während die Kinder zu Bürgern erzogen werden mussten, denen die Interessen der Regierung viel wichtiger waren als die eigenen oder jene der Familie.

Politische Überlegungen definierten das Verhältnis zu Kindern

Die Haltung gegenüber Kindern änderte sich in der Sowjetunion im Einklang mit den jeweils vorherrschenden Interessen des Staates. So war die sowjetische Regierung die erste der Welt, die Abtreibungen im Jahr 1920 legalisierte. Im Vereinigten Königreich oder in Frankreich fand die Legalisierung vergleichsweise in den Jahren 1967 beziehungsweise 1975 statt. Vor der bekannten Volkszählung im Jahr 1936, bei der katastrophale Rückgänge der Geburtenraten verzeichnet wurden, wurden Abtreibungen verboten und strafrechtlich verfolgt. Man verkündete, dass Abtreibung ein böses Erbe einer Ordnung sei, die persönliche Interessen der Menschen fördere und dem Wohlergehen der Gemeinschaft keinen Wert beimesse. Die Auswirkungen des Verbots waren beeindruckend: In der ersten Hälfte des Jahres 1936 wurden in Leningrader Krankenhäusern 43 600 Abtreibungen durchgeführt, in der zweiten Jahreshälfte nur noch 735.

All dies blieb nicht ohne Auswirkungen. So sagt man, dass viele Frauen mit der Einführung des zweiten freien Tages im Jahr 1967 unzufrieden waren. Erstens tranken ihre Männer davor nur einmal pro Woche und zweitens war unklar, wie man die Kinder einen weiteren Tag beschäftigen sollte. Deshalb baten viele Frauen darum, ihre Kinder sechs Mal pro Woche in die Schule oder in den Kindergarten bringen zu können.

Kinder sind eine Investition

Neue Zeiten und neue wirtschaftliche Gegebenheiten änderten das Familienleben und die Beziehung zu den Kindern. Das Kind wurde zur Investition. Viele verbanden damit das finanzielle Wohlergehen der Familie. Eine solche Haltung gegenüber Kindern entwickelte sich im Westen in den 1970er-Jahren als niedrige Geburtsraten und einen Mangel an Arbeitskräften zusammenkamen.

In Russland liegt der Anteil der Familien mit einem Kind bei immerhin 60 Prozent. „In diesem Zusammenhang wächst die Bedeutung des Humankapitals“, sagt Kutschmajewa. „Es wird klar: Je mehr man in einen Menschen investiert, umso mehr bekommt man zurück.“ Es erschien sogar eine Reihe von Studien, die die Investitionen in ein Kind und den damit verbundenen finanziellen Verlust der Eltern zu quantifizieren versuchten. Die Ökonomen versuchten herauszufinden, ob es für die Gesellschaft vorteilhafter ist, wenn Eltern sich vernachlässigen und alle Mittel in ihre Kinder investieren, oder wenn sie sich selbst und ihre Karriere entwickeln und dem Kind anschließend Kapital bereitstellen. Es blieb beim Versuch, eine definitive Antwort zu finden.

Der Kinderzentrismus wurde zu einer Art Religion vieler Familien mit einem Elternteil. Jedes siebte Kind in Russland wächst in einer solchen Familie auf. Diese Kinder symbolisieren oft „ein Licht am Ende des Tunnels“ und werden von ihren Eltern vergöttert. So werden sie oft zu den Objekten erstaunlicher pädagogischer Experimente.

„Man kann sagen, dass die geheimnisvolle russische Seele eine geheimnisvolle Art der Erziehung hervorgebracht hat, die in den Köpfen der Eltern paradoxerweise widersprüchliche Wünsche und Hoffnungen verbindet“, so Turgel.

So wollen die Russen Kinder erziehen, die sich dem System unterordnen – so sei es sicherer. Zugleich wollen sie aber, dass ihre Kinder alle Fähigkeiten entwickeln, um im Leben freie Entscheidungen treffen zu können.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Ogonjok.

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