Waleri Gergijew: „Wir verkaufen unsere Opern nicht wie Erdöl“

«Als ich Anatoli Sobtschak zum ersten Mal begegnete, befand sich Wladimir Putin an seiner Seite. Das war 1992.»

«Als ich Anatoli Sobtschak zum ersten Mal begegnete, befand sich Wladimir Putin an seiner Seite. Das war 1992.»

Ruslan Schamukow/TASS
Der langjährige Leiter des Mariinski-Theaters über eine Bitte des Großherzogs von Luxemburg und seine Freundschaft mit Maja Plissezkaja.

Ich habe mir Ihren Zeitplan angesehen, Waleri Abissalowitsch …

Den gesamten? In den letzten 35 Jahren hat sich da fast nichts geändert, außer dass die Zahl der Termine zugenommen hat. Ich gebe viele Gastspiele im In- wie im Ausland.

Genau das meine ich – möchten Sie es nicht manchmal etwas ruhiger angehen und zurückblicken?

Ich arbeite ja mit mehreren Ensembles – u. a. in Leningrad, London und München. Ich dirigiere und leite große Orchester. Das ist eine gute Möglichkeit umzuschalten und quasi von außen zu sehen, was ich tue.

Leningrad – war das ein Versprecher?


Diese Bezeichnung ist ein Teil meines Lebens. Meine Ausbildung habe ich im Leningrader Konservatorium erhalten, als Student besuchte ich die Konzerte der Leningrader Philharmonie, gearbeitet habe ich im Leningrader Kirow-Theater … Ich glaube, in Leningrad lebte immer ein Stück Sankt Petersburg und im heutigen Sankt Petersburg lebt ein Teil von Leningrad weiter. 1962 kehrte der große Strawinskij nach fast einem halben Jahrhundert in seine Heimatstadt zurück. Auf die Frage, was ihm in Leningrad besonders gefallen habe, antwortete er ganz lapidar: „Sankt Petersburg“. 

Wem verdanken Sie Ihre Begeisterung für die Musik?

Die „Schuldigen“ sind in meiner Familie zu finden. Den größten Verdienst hat meine Mutter. Als Kind spielte ich nur Fußball. An Musik war da nicht zu denken! Aber meine Mutter setzte sich durch – ohne Druck und Geschrei. Ich bin ihr unendlich dankbar dafür, dass ich mich glücklich fühle und ein anerkannter Profi bin.

Natürlich hatte ich auch Glück mit meinen ersten Musiklehrern. Als ich nach Sankt Petersburg kam, war ich noch nicht ganz 19 Jahre alt. Ich wollte eigentlich Klavier studieren, bereitete mich aber auch auf das Dirigieren vor, wo ich letztendlich landete. Die Grundlage für meine heutige Tätigkeit wurde im Studium gelegt. Ich lernte mit Vorliebe nachts, aber manchmal fuhr ich auch in aller Frühe zum Konservatorium. Bis neun Uhr übte ich allein, dann begann der offizielle Unterricht. Und so ging das Tag für Tag. Ich dachte ständig nur an Musik, weil ich erkannte, dass der Rest – Karriere und Geld – dann von ganz allein kommen würde. Das Entscheidende ist, sich auf das Wichtige zu konzentrieren. Als ich Intendant des Mariinski-Theaters wurde, musste ich mein Arbeitskabinett lange mit zwei Assistenten teilen. Ein Empfangszimmer gab es nicht. Nichtsdestotrotz konnte ich normal arbeiten und sogar hochrangige Gäste empfangen: Plácido Domingo, Peter Ustinov ... Im Vordergrund stand die Arbeit, danach erst kam der Komfort.

Und eben dies hilft mir, ein gutes Verhältnis zum Orchester zu bewahren. Die Leute sehen: Ich bemitleide mich nicht selbst und leiste so viel wie die anderen, wenn nicht sogar mehr. 
70 bis 80 Mal pro Jahr trete ich im Ausland auf. Ja, ich bin durch Angebote aus dem Westen verwöhnt, jedoch steht das Mariinski-Theater für mich immer an erster Stelle. Wir verkaufen unsere Opern und unser Ballett nicht wie Erdöl, aber ich denke, wir haben damit eine positive Wirkung auf das Image unseres Landes.

In Sankt Petersburg hatte das Mariinski-Theater immer schon einen Sonderstatus. Sind Sie mit den Behörden stets gut ausgekommen?

Die letzten 20 Jahre werden wir von der Stadtverwaltung nicht mehr behelligt. Wir sind schließlich eine föderale Kultureinrichtung. Aber ich erinnere mich noch gut, wie der damalige Bürgermeister Anatoli Sobtschak 1993 1000 Rubel für das Festival Stars der Weißen Nächte beisteuerte. Heute erscheint derBetrag lächerlich, aber damals war das alles, was die Stadt aufbringen konnte. So war das in den Neunzigern! Musiker nahmen Einladungen nach Sankt Petersburg an, ohne auf ein üppiges Honorar zu hoffen. Wir konnten ihnen kaum etwas zahlen. Wer hat damals schon geahnt, dass Stars der Weißen Nächte nach 20 Jahren zu einem der größten Musikfestivals der Welt zählen würde? In den ersten Jahren folgten lediglich meine Freunde der Einladung, alle, die ich persönlich überreden konnte. Zum Glück habe ich viele Freunde ...

Unbestritten. Aber nicht jeder kann die ehemaligen Regierungsmitglieder Gref und Kudrin zu seinen engsten Freunden zählen ...

Ja, ich schätze sie sehr, aber es sei angemerkt, dass unsere Freundschaft seit Mitte der Neunziger besteht, als niemand ahnen konnte, dass diese jungen Ökonomen zehn Jahre später zum politischen Establishment des Landes gehören. Wir lernten uns über Sobtschak kennen, der es verstand, markante und talentierte Menschen um sich zu scharen. Als ich Sobtschak zum ersten Mal im Marienpalast begegnete, befand sich Wladimir Putin an seiner Seite. Das war 1992.

Als Putin dann 1999 Ministerpräsident wurde, erinnerte er sich an mich. Ich wurde zu ihm ins „Weiße Haus“ eingeladen. Damals war er gerade mal einen Monat im Amt. Wir sprachen anderthalb Stunden miteinander … Aber ich will hier nicht den Eindruck erwecken, dass ich zum engeren Kreis des Staatsoberhauptes gehöre und mit ihm über die Rettung des Vaterlandes diskutiere. Natürlich nicht!

Schon damals, Ende der Neunziger, gastierte ich regelmäßig in den großen Häusern der Welt, dirigierte namhafte Festivals, tauschte mich informell mit den Größen dieser Welt aus. Meine Konzerte besuchten schon vor 20 Jahren Leute wie Henry Kissinger oder Weltbankpräsident James Wolfensohn, und die Freundschaft mit Philips-Chef Cor Boonstra ermöglichte eine Tournee des Mariinski-Theaters nach Holland, Frankreich und – Sie werden staunen! – China. Zu unserem Auftritt in Peking kam der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin.

Mit Plissezkaja und Schtschedrin verband Sie eine langjährige Freundschaft. Wie ich weiß, haben Sie mit Maja Plissezkaja kurz vor ihrem Tod noch gesprochen …

Ja, und ihr Fortgang war ein schwerer Schlag für mich. Das war an meinem Geburtstag. Am Morgen des 
2. Mai rief sie mich aus München an, um mir zu gratulieren, und am Abend war sie von uns gegangen ... Wir kannten uns 30 Jahre, aber eine enge Freundschaft verband uns nur das letzte Jahrzehnt. Im April unterhielten wir uns noch angeregt in Moskau und verbrachten danach einige wunderbare Tage in Sankt Petersburg. Nichts ließ diesen tragischen Tod erahnen. Nichts! Maja bereitete sich auf die Feier zu ihrem 90. Geburtstag im November vor, hatte noch viele Pläne.

Meine Entscheidung, das London Symphony Orchestra zu verlassen und die Münchner Philharmoniker zu leiten, hatte seinen Grund vor allem darin, dass Schtschedrin und Plissezkaja in der bayrischen Hauptstadt lebten. Dazu kam, dass die deutsche Musikkultur ein Podium war, auf dem ich noch nicht alles geäußert hatte. Ich freute mich auf die Gespräche mit Maja und Rodion, wenn ich nach München kam. 

Seit Kurzem sind Sie Honorarkonsul 
Luxemburgs in Sankt Petersburg. Bringt Ihnen das irgendwelche Privilegien?

Theoretisch könnte ich ein rotes Diplomatenkennzeichen an meinem Auto haben. Aber nicht deshalb habe ich das Ehrenamt angenommen, oder? Der Großherzog, den ich seit über 20 Jahren kenne, hat es mir angeboten. Für mich ist dieses Amt kein Privileg, sondern eine Verpflichtung. 


Die ungekürzte Fassung des Interviews erschien bei der Nachrichtenagentur TASS.

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