Anna Netrebko: „Kunst muss unberührbar bleiben und außerhalb jeder Politik stehen. Das ist meine feste Überzeugung“.
Vadim Zhernov / RIA Novosti„Rossijskaja Gaseta“: Es dauerte 25 Jahre erfolgreicher internationaler Karriere bis zu ihrem Debüt im Bolschoi-Theater. Wie erklären Sie sich das?
Netrebko: Ich möchte nicht an irgendwelche Machenschaften oder Intrigen glauben. Wahrscheinlich sind eine ungeschickte Organisation und eine schlechte Zeitplanung der Grund.
Fürchten Sie nicht, dass Waleri Gergijew eifersüchtig werden könnte? Sie sind schließlich Solistin am Mariinski-Theater.
Mit Gergijew verbindet mich eine gute Freundschaft. Er versteht sehr gut, dass das Bolschoi-Theater ein großes Theater ist. Wenn eine Sängerin dort auftreten möchte und die Chance dazu bekommt, dann macht sie es – und singt trotzdem im Mariinski-Theater. Wenn man es genau nimmt, dann gehöre ich dem Mariinski schon lange nur noch aus der Ferne an. Ich bin selten dort – einmal pro Saison, manchmal auch nur jede zweite.
Warum lehnen Sie manche Rollen wie etwa in Gounods „Faust“ oder Bellinis „Norma“ ab, obwohl man Sie schon angekündigt hatte?
Normalerweise unterschreibe ich meine Verträge einige Jahre im Voraus. Ich gehe in diesen Momenten davon aus, dass mich eine bestimmte Partie, die ich noch nicht gesungen habe, in zwei bis drei Jahren begeistert und ich sie mit Freude einstudiere. Aber dann nähert sich der Zeitpunkt und mir wird klar, dass ich eine Partie nicht für mich erschließen kann. So passte die Rolle der Margarita in „Faust“ nicht zu mir, mit der Norma war es ähnlich. Ich habe sie mir nicht einmal bis zum Schluss angehört. Sie gefällt mir nicht. Ich wollte aber das Royal Opera House nicht im Stich lassen und auch meinen Vertrag mit der Metropolitan Opera nicht auflösen. Das war eine äußerst schwere Entscheidung für mich, aber ich habe sie getroffen. Ehrlich gesagt half mir der Regisseur in dem Moment sehr dabei. Als ich sein Konzept sah, war das der letzte Tropfen und ich habe abgesagt.
Sind noch weitere solche Entscheidungen in Sicht?
Ich bemühe mich, bei der Wahl des Repertoires und der Verträge umsichtig zu sein. Dabei vertraue ich insgesamt nur meiner Intuition. Meine neuen Partien werden mich hoffentlich interessieren. Und ich gehe davon aus, dass ich sie bewältige.
Anna Netrebko während der Proben zur Oper "Il trovatore" von Giuseppe Verdi im Schillertheater in Berlin. Foto: Getty Images
Und das wären zum Beispiel?
Ich fange gerade mit meiner Arbeit an „Aida“ an. Ich habe mir bisher nur einen ersten Eindruck verschafft: passt die Rolle oder nicht. Ich werde sehr viel Arbeit hineinstecken müssen. Mein Debüt mit dieser Partie steht mir im Sommer 2017 auf den Salzburger Festspielen bevor. „Aida“ ist eine sehr schwere Oper. Ich habe mir schon viele gute und interessante Aufzeichnungen angehört, unter anderem eine sehr gute mit Maria Callas, als sie noch in ihrem Körper war. Man kann sagen, was man will: Diäten sind vollkommen unsinnig! Als Callas anfing abzunehmen, verlor sie allmählich ihre Stimme.
Anna Netrebko: „Ich bin ein ruhigerer Mensch geworden“. Foto: AFP / East News
Halten Sie sich an eine Diät?
Ich? Nein! Um keinen Preis! Ich liebe jedes meiner überflüssigen 13 Kilo – die von jener Giuditta, die in Baden-Baden barfüßig tanzte. Sie halten sich schon die letzten sieben Jahre und ich schätze sie sehr. Sie tragen mich. Sie sind meine Ausdauer, meine Kraft, mit der ich meine Stimme unterstützen kann. Ich spreche da natürlich über dramatische Partien, nicht von leichtem Repertoire.
Hat Ihr radikaler Wechsel des Rollenfachs, Ihre Entwicklung von leichten, beinahe soubrettenhaften zu äußerst dramatischen Rollen, Ihren Charakter verändert?
Nein. Ich bin allgemein ruhiger geworden, meine Infantilität mit ihrem Geziere und der Nachäfferei ist verschwunden. Ich bin jetzt 45 Jahre alt. Ich hatte keine Lust mehr, etwas aus mir zu machen, etwas darzustellen, was ich nicht mehr bin. Ich finde es erheblich angenehmer und interessanter, mich mit großen und ernsthaften Figuren zu befassen.
Und wie ist Ihre Persönlichkeit zuhause?
Zuhause bin ich der weichste, stillste und anpassungsfähigste Mensch der Welt, vor allem seitdem ich einen so wunderbaren Menschen geheiratet habe. Es ist jetzt ein richtiger Mann in der Familie. Ich spüre, dass es einen Herrn im Haus gibt, eine Stütze. Das tut mir so gut, ich konnte mich entspannen. Hinzu kommt, dass Yusif nicht nur mein Mann, sondern ein hervorragender Tenor ist.
Wo sind Sie heute zuhause? In Sankt Petersburg, Wien oder in New York?
Wahrscheinlich in erster Linie in Wien. Ich habe dort meinen dauerhaften Wohnsitz. Ich zahle dort meine Steuern. New York ist unsere zweite Heimat. Vielleicht finden wir in ein bis zwei Jahren für Tischu (Тiago Arya, Netrebkos Sohn, Anm. d. Red.) in Österreich eine passende und gute Schule, dann wird er in Wien leben. Dann ziehen wir als ganze Familie dorthin und fangen an, Deutsch zu lernen.
Wirkt sich die gegenwärtige politische Situation auf Ihre Karriere aus?
Nein. Auch wenn die politische Lage insgesamt nicht inspirierend ist. Aber die Theater stehen hinter ihren Künstlern wie ein Fels in der Brandung. Der General Manager der New Yorker Metropolitan Opera Peter Gelb ist immer der erste, der in die Bresche springt. Nicht nur für mich, für Waleri Gergijew, sondern auch für viele andere. Kunst muss unberührbar bleiben und außerhalb jeder Politik stehen. Das ist meine feste Überzeugung.
Sie haben bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi die Hymne gesungen. Würden Sie gerne auch in Moskau 2018 auftreten, wenn die Fußballweltmeisterschaft eröffnet wird?
In Sotschi die olympische Hymne zu singen war für mich eine Frage der Ehre! Das gilt auch für die Eröffnung der Fußball-WM. Wenn meine Heimat es wünscht, werde ich singen. Solche Fragen sind politisch wichtige Anliegen. Wenn die Verantwortlichen zu dem Schluss kommen, dass ich dieser Aufgabe würdig bin, dann stehe ich hinter meinem Land.
Das Interview erscheint hier in gekürzter Fassung.
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