Ein „Gespräch“ mit Leo Tolstoi: Was Sie schon immer über sein Leben wissen wollten

Karl Bulla/Sputnik
In einem offenen Gespräch erzählt uns der Autor von „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ von seinem Leben, seiner Familie und der schmerzlichen, komplizierten Welt eines großen Schriftstellers.

Herr Tolstoi, wie geht es Ihnen?

Ich bin in Jasnaja Poljana. Es geht mir gesundheitlich wieder besser. Die Gäste sind abgereist. Meine Seele ist fröhlich.

Haben Sie oft Besuch? Bittsteller und Arme müssten doch ständig zu Ihrem Haus kommen…

Eine Menge Bittsteller: Witwen, die ihr Land verloren haben, Bettler aller Art. Es ist sehr schwer für mich – denn es ist alles falsch. Ich kann ihnen nichts geben. Ich kenne sie nicht. Und es gibt zu viele von ihnen. Es scheint eine Mauer zwischen ihnen und mir zu stehen. Ich habe das Gefühl, dass die Leute - die meisten - mich nicht als Mensch betrachten, sondern als Berühmtheit. Sie kommen zu einem Mann, der berühmt geworden ist, indem er bedeutungsvolle und klare Gedanken zum Ausdruck gebracht hat und sie lassen diesen Mann nicht zu Wort kommen, während sie reden. Sie reden über das, was nur sie wissen oder über Dinge, die ich schon lange als lächerlich entlarvt habe…

Es ist kein Wunder, dass die Leute Ihnen so viel Aufmerksamkeit schenken, wenn Sie Ihre Glaubwürdigkeit und Erfahrung berücksichtigen. Wie denken Sie über Ihr Alter?

Wenn man alt wird, schwinden die Fähigkeiten zur äußeren Wahrnehmung, die es ermöglichen, mit der Welt zu kommunizieren: der Sehsinn, das Hörvermögen, der Geschmackssinn… An ihre Stelle treten neue innere Gefühle, die einen Zugang zur spirituellen Welt ermöglichen. Das ist zehnmal so viel wert. Ich erlebe das gerade. Und ich bin froh und dankbar.

Sie sind ein berühmter Schriftsteller und ein wohlhabender Großgrundbesitzer. Haben auch Sie Probleme in Ihrem Leben?

Eines der größten Probleme ist, dass ich in Luxus lebe. Jeder nimmt teil an diesem Luxus und schenkt mir nutzloses Zeug und sie alle sind beleidigt, wenn ich diese Sachen zurückgebe. Auf der anderen Seite betteln mich die Menschen an und ich muss sie zurückweisen. Ich fühle mich dann schlecht.

Leo Tolstoi und seine Frau Sophia

Es scheint, als würde das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit Sie nicht loslassen…

Ich bin zerrissen. Zwei Extreme – der Rausch des Geistes und die Macht des Fleisches. Es ist ein quälender Kampf. Ich habe keine Kontrolle über mich. Ich suche nach den Ursachen: Tabak, Ausschweifungen, Fantasielosigkeit. Aber das sind alles nur Kleinigkeiten. Es gibt einen Grund, die Abwesenheit einer geliebten und liebenden Frau.

Haben Sie eine gemeinsame Basis mit ihren Kindern?

Es ist schwer für mich in der Familie. Es ist schwer, dass ich nicht mitfühlend sein kann. All ihre Freuden: die Prüfungen, der Erfolg in der Gesellschaft, die Musik, sich einrichten, einkaufen, all das ist für sie nicht gut, es ist böse, aber das kann ich ihnen nicht sagen. Natürlich kann ich das schon und ich tue es auch, aber meine Worte kommen nicht an. Es scheint, als würden sie den Sinn meiner Worte gar nicht erfassen, sondern es nur für eine schlechte Angewohnheit halten, dass ich sie ausspreche.  

Wie sehen Sie derzeit Ihre Arbeit?

Ich muss jeden mit meinen unendlichen immer gleichen Geschichten verärgert haben, zumindest ist es das, was die Allgemeinheit denken muss. Es ist besser zu schweigen und zu leben. Und nur wenn der Drang unerträglich wird, Fiktion zu schreiben, die mich oft anzieht. Nicht um des Erfolges willen, sondern um mich einem breiteren Publikum mitzuteilen, ohne meine Arbeit aufzudrängen, sondern sie zum richtigen Zeitpunkt zu bringen… Gott helfe mir.  

Leo Tolstoi in seinem Moskauer Anwesen in Chamowniki, 1898. Das Foto wurde von Sophia Tolstoi gemacht.

Zurzeit sind Sie in Jasnaja Poljana. Normalerweise verbringen Sie den Winter in Ihrem Moskauer Anwesen in Chamowniki. Was können Sie uns über das zeitgenössische Moskau erzählen?  

Gestank, Steine, Luxus, Elend, Schurken, die ihr Volk beraubten, haben sich versammelt, riefen Soldaten und Richter herbei, um ihre Orgie zu bewachen und sie feiern ein Fest. Die Menschen müssen nichts weiter tun, als die gestohlenen Werte zurückholen, indem sie die Wünsche dieser Leute ausnutzen. Männer stellen sich dabei klüger an als Frauen. Die Frauen bleiben zu Hause, die Männer schrubben Fußböden und reiben Körper in den Badehäusern ein oder arbeiten als Kutscher.

Was würden Sie uns empfehlen, damit wir unser Inneres jetzt verändern können?

Bis zum Einbruch der Nacht und bis zum Ende des Jahrhunderts zu leben. So zu leben, als wäre es die letzte Stunde auf der Erde und es bleibt nur Zeit, um die wichtigsten Dinge zu erledigen. Und gleichzeitig so tun, als könnte man für immer weitermachen.

Was denken Sie über Gott?

So seltsam das auch erscheinen mag, nur Liebe kann helfen, Gott zu erfahren. Die Liebe ist das einzige Mittel, um Gott zu verstehen.  

Und was lieben Sie?

Oft und mit Schrecken frage ich mich: Was liebe ich? Nichts. Absolut nichts. Das ist eine bedauerliche Situation. Es gibt keine Aussicht auf ein glückliches Leben. Auf diese Weise ist es jedoch einfacher, ein Mann des Geistes zu sein. Ein Erdenbewohner, der aber keine physischen Bedürfnisse hat.

Alle „Antworten“ Leo Tolstois sind Auszüge aus seinen Tagebucheinträgen verschiedener Jahre.

>>> Gegen Staat, Kirche und Shakespeare: Tolstois drei „heilige Kriege"

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