Ist klassische russische Literatur wirklich so deprimierend?

Aus dem Film „Anna Karenina“

Aus dem Film „Anna Karenina“

Alexander Sarchi/Mosfilm, 1967
Slawistik-Studenten begegnen diesem Vorurteil immer wieder: Russische Klassiker sind deprimierend? Ist etwas Wahres daran und was steckt dahinter?

Die Russen sind seit langem meisterhaft darin, den menschlichen Geisteszustand auf unnachahmliche Weise zu beschreiben. Lesen Sie (noch) einmal „Anna Karenina“ oder  „Verbrechen und Strafe“ (auch bekannt als „Schuld und Sühne“). Seien wir ehrlich, wenn Sie es bis auf Seite 140 geschafft haben, sind Sie bereits in richtig düsterer Stimmung. Geben Sie nicht auf, auch wenn Sie kein Licht mehr am Ende des Tunnels sehen. Lesen Sie weiter und vielleicht erkennen Sie dann, dass das Licht aus einem guten Grund kurz ausgeschaltet war. 

Aus dem Film „Verbrechen und Strafe“

Die Behauptung, russische Literatur sei „deprimierend“, scheint zunächst überzeugend. Doch das ist nur eine oberflächliche Betrachtung. Nach dieser Logik erwartet auch der Detektiv, der dem Verdächtigen eine Fangfrage stellt, dass dieser sich verrät. Das ist auf keinen Fall so! 

Es ist keine Übertreibung, dass die klassische russische Literatur Generationen von echten Bücherwürmern glücklich gemacht hat. Wenn es stimmt, dass Glück und geistige Gesundheit eine unmögliche Kombination sind, kann man auch mit Sicherheit sagen, dass ernstes Drama für alle Beteiligten erhebend und bereichernd sein kann. Der Autor von „Lolita“, Wladimir Nabokow, bemerkte zum Beispiel, dass Tschechow „traurige Bücher für humorvolle Menschen“ schrieb, weil „nur ein Leser mit Sinn für Humor ihre Traurigkeit wirklich zu schätzen weiß“.  

Ebenso müssen diejenigen, die sich der Meinung anschließen, dass Dostojewskis „Der Idiot“ manchmal frustrierend sein kann, zugeben, dass es dennoch kein ausschließlich deprimierender Roman ist, sondern er paradoxerweise hoffnungsvoll ist. Vielleicht liegt das daran, dass Leid und Einsamkeit auch Freude und Optimismus lehren können.

„Warum ist russische Literatur so deprimierend?“ ist keine rhetorische Frage. Die Russen haben tatsächlich eine Vorliebe für Drama. Russische Literatur widmet sich großzügig Themen wie 

  • Einsamkeit („Die drei Schwestern“ von Anton Tschechow) und Verbannung („Das Haus der Toten“ von Fjodor Dostojewski),
  • Leiden („Leben und Schicksal“ von Wassili Grossman) und Qual („Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ von Alexander Solschenizyn),
  • Schwäche („Die toten Seelen“ von Nikolai Gogol) und Grausamkeit („Mumu“ von Iwan Turgenjew),
  • Glaube („Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski) und Veränderung („Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi),
  • Überleben („Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak), Faulheit („Oblomow“ von Iwan Gontscharow) und Dummheit („Das Dorf“ von Iwan Bunin),
  • Tod („Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow) und Hoffnungslosigkeit („Die Baugrube“ von Andrei Platonow).

Generationen von Russen erlebten im Laufe der Geschichte turbulente Zeiten im Land, etwa den Napoleonischen Krieg, zwei verheerende Weltkriege, die bolschewistische Revolution, die Schrecken des totalitären Regimes und die sowjetischen Gulags, um nur die nicht allzu ferne Vergangenheit zu erwähnen…

Aber, welche Überraschung, das menschliche Leid hat die besten Geschichtenerzähler hervorgebracht. Diese Turbulenzen dienten als Katalysator für intellektuelle Unruhe. Entgegen der landläufigen Meinung betäubten die großartigen literarischen Genies Russlands ihren emotionalen Schmerz nämlich nicht mit Flaschen billigen Wodkas, sondern mit tiefen Weisheiten. Enttäuschungen und Herzschmerz beraubten sie nicht ihrer Würde, sondern prägten ihre Seelen. Leid und Elend ermutigte viele erst, etwas zu Papier zu bringen. Einige der am meisten verehrten Schriftsteller Russlands, darunter Michail Bulgakow, Anton Tschechow und Wassili Aksenow, kamen aus der Medizin zur Literatur. Sie wussten aus erster Hand, dass eine offizielle Diagnose selten die reale Empfindung einer Person erfasst.

Anstatt die russische Literatur mit Warnhinweisen zu versehen, nehmen wir an, dass sie tatsächlich Feuer mit Feuer bekämpfen kann, um Depressionen zu lindern, Phobien zu beseitigen und manchmal sogar Kindheitstraumata zu heilen. „Wir werden von einem Leiden nur geheilt, wenn wir es in vollen Zügen erleben“, sagte Marcel Proust. Der Mann, der sein Leben „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verbrachte, war nie in Russland gewesen, versprach jedoch, der Heimat Tolstois und Dostojewskis „immer treu zu bleiben“.

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