Wie Leo Tolstois verbotene Novelle eine sexuelle Revolution in Russland auslöste

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Der Schriftsteller, der 13 Kinder hatte, vollzog am Ende seines Lebens einen moralischen Umbruch – er überdachte die Bedeutung der Ehe und die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Novelle Kreutzersonate rief 1890 einen Skandal hervor. Was regte die Öffentlichkeit damals so auf?

Ein Mord aus Eifersucht

Der Protagonist, Wassilij Posdnyschew, erzählt auf einer Zugfahrt seine Geschichte einem mitreisenden Unbekannten: Er habe seine eigene Frau getötet, als er spät in der Nacht von einer Reise zurückkehrte und sie zusammen mit einem Mann beim Musizieren vorfand. Der Mord wegen Eifersucht wurde nicht geahndet und Posdnyschew freigelassen.

Nach dieser schrecklichen Episode erlebt der Held eine geistige Wiedergeburt und es scheint ihm, dass er nun den ganzen verderblichen Zustand der Gesellschaft verstehe. Bei dem Vorfall ist nicht einmal klar, ob seine Frau tatsächlich fremdgegangen war. Aber Tolstoi sind die Gefühle wichtiger als die Taten. Im Epigraf zitiert der Autor das Evangelium: „Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“

„Tolstoi war überzeugt davon, dass die Ursache für die familiäre Katastrophe, die seine Figuren ereilte, ihre Promiskuität vor der Ehe war, die sie dazu brachte, vom Familienleben vor allem die Befriedigung fleischlicher Gelüste zu erwarten. Die Enttäuschung führte bei Posdnyschew zum Hass auf seine Frau und manischer Eifersucht“, äußert Andrej Sorin in seinem Buch Das Leben Leo Tolstois. Eine Leseerfahrung.

Der Teufelskreis

Posdnyschew resoniert verbittert darüber, wie die säkulare Gesellschaft durch die sexuelle Erziehung von Jungen und Mädchen korrumpiert wird. Unter den säkularen Menschen seines Kreises gilt es als normal und sogar gesund, dass Männer vor der Ehe „die Sau herauslassen“.

Der junge Leo Tolstoi im Krimkrieg

Er erzählt freimütig, wie er zum ersten Mal einer Frau beiwohnte oder besser gesagt, „zum Wüstling wurde“. Zusammen mit seinem Bruder war er in ein Bordell gegangen. „Ich erinnere mich, dass mir gleich dort, an Ort und Stelle, bevor ich noch das Zimmer verlassen hatte, ganz traurig zumute wurde, so traurig, dass ich nahe daran war, zu weinen. Zu weinen um meine verlorene Unschuld, um das für immer zerstörte Verhältnis zum Weibe.“ Es ist erwähnenswert, dass diese Episode autobiographisch ist – Tolstoi beschrieb eine ähnliche Erfahrung in seinen Tagebüchern.

Gleichzeitig wird den Frauen dieses „Recht“ auf eine Beziehung vor der Ehe vorenthalten. Aber laut Posdnyschew sind heiratsfähige Mädchen nicht besser als jene käuflichen Frauen. Die Eltern suchen einen Ehemann für sie und tun alles, um ihre Tochter möglichst gewinnbringend unter die Haube zu bringen. Alle Freizeitbeschäftigungen der Frauen, sei es nun Stricken oder Musizieren, zielen einzig und allein darauf ab, den zukünftigen Ehemann zu beeindrucken.

Auch über Frauenkleider ergießt Posdnyschew sich in einer Tirade – als ob Millionen von Menschen in Fabriken nur für die Launen der Frauen arbeiten und Kleider nähten, die bei den Männern einen flüchtigen Eindruck hinterlassen. Posdnyschew erachtet es als schrecklich, dass Frauen die Männer mit ihrer Sinnlichkeit erobern. „Und haben sich die Frauen dieses Mittel erst einmal zu eigen gemacht, dann missbrauchen sie es und erwerben dadurch eine ungeheure Macht über die Menschen.“

Der Zweck von Frauen

Wegen ihrer Verhöhnung der Familienwerte und gewagter Gedanken über die Ehe wurde die Kreutzersonate sofort nach ihrem Erscheinen von der zaristischen Zensur verboten. Allerdings war es das Verbot, das der Geschichte ihre unglaubliche Popularität verlieh. Die Kreutzersonate wurde von der gesamten gebildeten Gesellschaft gelesen und im Geheimen als Kopie herumgereicht (eine Art Vorläufer des sowjetischen Samisdat).

Posdnyschew erzählt von seiner Verliebtheit in seine zukünftige Frau: Nach einer Weile sieht er ihre Bekanntschaft nur noch als glückliches Zusammentreffen einer angenehmen Bootsfahrt und des gut geschnittenen Kleides seiner zukünftigen Frau. Der Heirat folgen „gräuliche“ Flitterwochen, die nichts anderes als eine legalisierte Untugend sind. Und dann stellt sich heraus, dass der Ehemann absolut keine Ahnung hat, was für ein Mensch seine Frau ist. Es kommt zu Streit und Missverständnissen und das einzige, was sie versöhnen kann, ist die Geburt der Kinder.

Tolstoi und seine Frau Sofja

In der Schwangerschaft und der Sorge um die Kinder sieht Posdnyschew (wie auch Tolstoi) die Bestimmung der Frau. Deshalb ist er entrüstet, als er erfährt, dass die Ärzte seiner Frau raten, nach dem fünften Kind keine Kinder mehr zu bekommen – er sieht darin einen Verstoß gegen das Naturgesetz. Darüber hinaus hält Tolstoi eine Frau, die nicht mehr gebärt, aber weiterhin eine sinnliche Beziehung mit ihrem Mann hat und sogar verhütet, für unmoralisch. Diese Frage beunruhigte den Schriftsteller selbst – seiner Frau wurde ebenfalls geraten, keine weiteren Kinder mehr zu bekommen, aber er war gegen „Maßnahmen“ zur Vermeidung einer Schwangerschaft.

Posdnyschew glaubt, es sei besser, ganz und gar auf das Sexualleben zu verzichten. Sein Begleiter und zufälliger Zuhörer der Geschichte entgegnet: Aber was ist mit dem Menschengeschlecht? Darauf antwortet der Held, dass er mit den Buddhisten übereinstimme, dass das menschliche Leben keinen Zweck habe und es sowieso aufhören werde, ebenso wie das menschliche Geschlecht, also sei es nichts Schlimmes, wenn es aufhört, weil jeder moralisch leben werde.

Die Lektüre der emanzipierten Frauen

In den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts war die Kreutzersonate ständiger Gesprächsstoff. Der Tolstoi-Forscher Pawel Basinskij schreibt, dass „sie eine der wichtigsten Faktoren der Wirren des Jahrzehnts war“, war doch das Ende dieses Jahrhunderts die Zeit des Erwachsen der weiblichen Emanzipation. Deshalb sahen die Leserinnen auch ein moralisches Problem in der Geschichte – warum sollte ein Mädchen vor der Ehe jungfräulich bleiben, während ein junger Mann das Recht hat, vorher sexuelle Erfahrungen zu sammeln und von der Gesellschaft darin sogar bestärkt wird?

Nach der Veröffentlichung des Novelle wurde die Frage der Sexualmoral sogar in der Presse diskutiert. Eine der ersten russischen Feministinnen, Elisaweta Djakonowa, empörte sich in ihrem Tagebuch darüber, dass jeder Mann es „für eine Schande für sich selbst“ hielte, ein Mädchen zu heiraten, das vor ihm einen anderen hatte. Gleichzeitig hält er es selbst für normal, vor der Ehe bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt zu haben.  „Und so ist überall, überall! Sowohl in Russland als auch im Ausland!“, schrieb Djakonowa.

>>> Warum Leo Tolstoi keinen Sex mochte

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