In Weliki Nowgorod, einer der ältesten Städte Russlands, stehen noch einige alte Steinkirchen. Einige haben ein besonderes (für das russische Auge) architektonisches Merkmal: Kreuze an den Fassaden, teilweise von einem Kreis umgeben. Das russisch-orthodoxe Standardkreuz besteht dagegen nur aus vier Kreuzbalken, einem senkrechten und drei waagerechten.
Interessant ist, dass diese „nicht-russischen“ Kreuze in Weliki Nowgorod selbst zwar häufig anzutreffen sind, jedoch nicht in benachbarten Gebieten. In anderen russischen Regionen sind sie völlig unbekannt. Wie kommen die keltischen Kreuze nach Weliki Nowgorod?
Nowgoroder Kreuze
Vor der Vereinigung der russischen Länder zu einem einzigen Staat im späten 15. Jahrhundert war Nowgorod drei Jahrhunderte lang eine unabhängige Republik mit gewählten Regierungsvertretern, während die meisten anderen russischen Staaten Fürstentümer waren, in denen die Macht erblich, war. Dies erklärt, warum Nowgorod im 14. bis 15. Jahrhundert eine eigene Kirchenarchitektur und eigene kirchliche Symbole entwickelte. Außerdem erreichten die tatarisch-mongolischen Invasoren, die viele Städte Zentralrusslands plünderten, Nowgorod nicht, so dass die Stadt ihre ältesten Kirchen mit diesen Symbolen bewahren konnte.
Das vierzackige Kreuz in einem Kreis ist auf Russisch sogar als Nowgorodski bekannt. In der Stadt finden Sie auch Poklonnije-Kreuze als Denkmäler. Sie stehen allein, oft am Wegesrand. Sie erinnern an denkwürdige Ereignisse und militärische Siege oder zeigen biblische Szenen. Manche von ihnen sind an die zwei Meter hoch.
Viele Kreuze befinden sich auch in Nischen an Kirchenfassaden. Dort stehen sie zum Gedenken an die Verstorbenen.
Für viele ähnelt die Gestaltung den bekannten keltischen Kreuzen, die sich im frühen Mittelalter auf den britischen Inseln und in Frankreich ausbreiteten. Der Kreis repräsentiert das heidnische Symbol der Sonne. Diese Kontinuität war wichtig für die Kelten, die erst kurz zuvor den christlichen Glauben angenommen hatten.
Einige Legenden aus verschiedenen Quellen stützen die Hypothese des keltischen Ursprungs der Kreuze. Einer von ihnen schlägt zum Beispiel eine keltisch-warägische Herkunft der russischen Staatlichkeit vor. Nach der normannischen Theorie, die von Historikern offiziell vertreten wurde, baten die ostslawischen Stämme die Waräger (d. h. die Wikinger), über sie zu herrschen. Fürst Rurik ging nah Weliki Nowgorod und seine beiden Brüder Sineus und Truvor nach Belosersk bzw. Isborsk. Nach der keltisch-warägischen Legende hatten diese Wikinger keltische Wurzeln, was indirekt durch das Vorhandensein mehrerer Kreise mit Inschriften in Isborsk (heutige Region Pskow) bestätigt wird.
Es ist jedoch nicht klar, warum im späten 8. Jahrhundert in Nordeuropa Kreuze im keltischen Stil auftauchten, in Russland jedoch erst im 14. bis 15. Jahrhundert. Außerdem ist das Nowgorodski-Kreuz anders geformt als das Keltenkreuz. In Nowgorod ähneln die waagerechten Kreuzbalken eher Klingen und sind unauffälliger als der senkrechte Kreuzbalken.
Darüber hinaus gibt es verschiedene Nowgorodski-Kreuze, die den keltischen überhaupt nicht ähnlich sind.
Ähnliche Kreuze wurden auch in den Regionen Isborsk, Pskow und Ladogasee sowie in Europa gefunden - in den ehemaligen Gebieten des Livländischen Ordens. Der livländische und der germanische Orden griffen wiederholt die Länder von Nowgorod an. Das veranlasste einige Historiker zu der Vermutung, dass solche Kreuze einen germanischen und keinen keltischen Ursprung haben.
Die Tatsache, dass Nowgorod als Mitglied der Hanse (einer großen politischen und wirtschaftlichen Union von Städten in Nordwesteuropa, die bis Mitte des 17. Jahrhunderts bestand) mit Europa Handel trieb, spricht ebenfalls für den Einfluss der germanischen Kultur.
Die meisten Forscher neigen jedoch dazu anzunehmen, dass diese Kreuze überhaupt nichts mit den Kelten oder anderen Westeuropäern gemeinsam haben.
Historiker untersuchten die ungewöhnlichen Nowgorodski-Kreuze bereits im späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert und kamen zu dem Schluss, dass sie Ähnlichkeiten mit der Tradition von Byzanz aufweisen, von wo aus das orthodoxe Christentum nach Russland kam. „Die Form dieser Kreuze stammt vermutlich von den üblichen byzantinischen Kreuzen in einem Kreis, die höchstwahrscheinlich einen Heiligenschein oder vielleicht eine Dornenkrone darstellen", schrieb der Historiker Alexander Spitsin im Jahr 1903. Diese Theorie wird von modernen Historikern gestützt.
Übrigens war im 16. Jahrhundert die Mode der in einen Kreis gefassten Kreuze in Nowgorod ausgestorben. Historiker glauben, dass entweder Kriege und Epidemien die Zahl der verfügbaren Handwerksmeister verringert haben, oder dass Moskau, was damals dominierte, die Verwendung der regionalen Symbole einschränkte.