Tabubruch: Die ersten Sexszenen in russischen Kinofilmen waren wenig überzeugend

Andrei Tarkowski/Mosfilm, 1966
Seien wir ehrlich: „Sex“ war in der Sowjetunion ein Schimpfwort. Darstellungen von Sex auf der Leinwand waren in der UdSSR fast so selten wie Mercedes-Autos auf den Straßen. Selbst ein leidenschaftlicher Kuss war tabu, ganz zu schweigen von Geschlechtsverkehr jeglicher Art.

In der Regel waren die sowjetischen Schauspieler viel zu schüchtern, um sich auszuziehen. Viele wurden von strengen (kommunistischen) Eltern erzogen, die ihren Kindern einen unerschütterlichen Sinn für Idealismus und Moral einflößten. Es schien den Schauspielern in der UdSSR unangenehm, am Set vor einem Partner nackt zu sein, und das blieb auch dem Zuschauer nicht verborgen. Sexszenen waren realitätsfremd und es fehlte die Leidenschaft.  

Emotionale Nacktheit

Aber es gab auch Ausnahmen. Der legendäre Regisseur Aleksandr Dowschenko sorgte für Aufsehen, als er es wagte, die sowjetische Schauspielerin Elena Maximowa, die 1930 in seinem Stummfilm-Meisterwerk „Die Erde“ mitspielte, komplett ausgezogen auftreten zu lassen. In dem poetischen Film gibt es eine kraftvolle Szene, in der die wunderbar sinnliche Schauspielerin im Eva-Kostüm durch das Haus läuft. Die nackte Frau beklagt den Tod ihres Verlobten Vasil. Ihr emotionaler Kummer ist spürbar und herzzerreißend.

Der verehrte Autor Andrei Tarkowski, der oft als der wichtigste Filmemacher der sowjetischen Ära bezeichnet wird, ging in seinem Meisterwerk „Andrei Rublew“ von 1966 noch weiter. Das Drama spielt im mittelalterlichen Russland und dreht sich um den berühmten russischen Ikonenmaler.  

Tarkowskis Filmepos ist eine Symbiose aus akribischer Kinematografie und gefühlvoller Erzählung. In „Andrei Rublew" schuf Tarkowski die Rus des 15. Jahrhunderts neu. Das Drama ist ein detailliertes, zeitloses Porträt des Lebens des russischen Volkes. Zum ersten Mal im sowjetischen Kino wurde die spirituelle und religiöse Seite des mittelalterlichen Russlands in großem Stil dargestellt.

In einer besonders aufschlussreichen Szene nähert sich eine Frau namens Martha (Nelli Snegina) Andrei Rublew, der während eines heidnischen Festes an ein Kreuz gefesselt ist. Die Frau bindet den Maler los, ihr nackter Körper ist nur in einen Pelzmantel gehüllt. Martha beginnt mit Rublew (dargestellt von Anatoli Solonizyn) ein Gespräch über die freie Liebe und versucht, ihn zu verführen. „Es ist die Nacht, in der jeder lieben sollte. Ist Lieben eine Sünde?", fragt sie.

Die Schüchternheit überwinden

Damals, vor Jahrzehnten, standen die sowjetischen Filmemacher vor einer Menge Herausforderungen. Zum einen weigerten sich viele Schauspieler kategorisch, sich vor der Kamera zu entblößen. Entgegen der landläufigen Meinung erwiesen sich die männlichen Schauspieler sogar als noch schüchterner als ihre weiblichen Partner. Am Ende des Tages zeigten die Schauspieler nur ihre nackte Brust, während sie von der Taille abwärts in Decken gehüllt waren.

Georgi Natansons „Noch einmal über die Liebe" schockierte das Publikum, als er 1968 uraufgeführt wurde. Der Film, basierend auf dem Theaterstück von Edvard Radzinsky, ist eine psychologische Geschichte voller Romantik und Drama. Die klassische Parabel über die Liebe bot einen Einblick in das Leben der 1960er Jahre in der UdSSR. Der Film mit der blonden Sexbombe Tatiana Doronina und dem männlichen Sexsymbol Aleksandr Lazarew in den Hauptrollen berührte die Beziehung zwischen Mann und Frau ohne überstrapazierte Klischees und Stereotypen.

In Schwarz-Weiß gedreht, bietet der Film viele unvergessliche Momente. Zwischen Doronina und Lazarew stimmte ganz offensichtlich die Chemie. In einer der denkwürdigen Szenen sieht man die beiden Hauptdarsteller in völliger Dunkelheit im Bett liegen, die Decke bis zur Nase gezogen. „Ich liebe dich, ich liebe dich", sagt sie mit Nachdruck, Tränen im Gesicht. „Liebst du mich auch?“ fragt Natalia, eine Flugbegleiterin, ihren Liebhaber, einen arroganten Wissenschaftler namens Elektron Jewdokimow.

„Ja, ich liebe dich", antwortet der Mann ohne Leidenschaft, als würde er von seinen Frühstückseiern sprechen.

Unnötig zu erwähnen, dass beide Schauspieler vollständig bekleidet waren, als diese intime Szene gefilmt wurde. Und doch, ohne sie hätte dem Film etwas gefehlt.

Ein Jahrzehnt später, im Jahr 1979, sorgte der sowjetische Katastrophenfilm „Flugzeugbesatzung" für viel Aufsehen. Er war unter anderem ein Versuch zu zeigen, dass Liebe und Sex tatsächlich ein Teil des sowjetischen Lebens waren und nichts, wofür man sich schämen musste.

Eine erotische Szene zwischen dem liebenswerten Frauenheld Igor (dargestellt von Leonid Filatow) und der Flugbegleiterin Tamara (Alexandra Jakowlewa) löste eine stürmische Reaktion der Zensur aus. Doch Regisseur Aleksander Mitta konnte sich durchsetzen und argumentierte, dass die Szene nicht aus dem Film geschnitten werden könne.

Tamara liegt im Bett mit dem Flugingenieur Igor, dem Frauenhelden, in den sie bis über beide Ohren verliebt ist. Beide sind halbnackt, wobei Jakowlewas entblößte Brust zu sehen ist. Tamaras und Igors Körper sind ineinander verschlungen und spiegeln sich wunderschön in der Decke und durch das Glas des riesigen Aquariums. Nur so konnte Mitta die Erlaubnis der Zensur bekommen, die intime Szene im Film zu belassen. Obwohl Mitta den ersten Katastrophenfilm der UdSSR gedreht hatte, strömten viele Kinobesucher vor allem ins Kino, um diese heiße Szene zu sehen.

Tabubrüche

Langfristig, Mitte der 1980er Jahre, während Gorbatschows Perestroika, begannen sich die moralischen Grundsätze zu ändern.

In „Winterkirsche“ (1985) wird die charmante Schauspielerin Elena Safonowa in der Eröffnungsszene des Films nackt gezeigt. Ihre Figur, Olga, ist eine alleinerziehende Mutter mit einem 5-jährigen Sohn. Die 30-jährige Brünette kann nicht genug von ihrem verheirateten Liebhaber Vadim bekommen, der so egoistisch ist wie ein Mann ohne echte Gefühle. In einer heißen Szene zeigt sich Safonowa völlig nackt, als sie nach einer Liebesnacht aufwacht und verträumt am Fenster des Hauses am See steht. Die Szene wurde zu einer Metapher für das einfache Vergnügen des Tagträumens auf der Suche nach Liebe.

Erotische Schlafzimmerszenen eroberten das sowjetische Kino in den späten 1980er Jahren im Sturm. Wassili Pitschuls Drama „Kleine Wera“ löste eine moralische Kontroverse aus, da es Geschlechtsverkehr zeigte. An Dreistigkeit und Kühnheit war die Szene im sowjetischen Kino beispiellos. Komischerweise passieren manchmal die besten Dinge im Leben durch Zufall. Es stellte sich heraus, dass die Sexszene, in der Vera (dargestellt von Natalia Negoda, dem ersten sowjetischen Star, der 1989 auf dem Cover des amerikanischen Playboy erschien) Sex mit Sergei (Andrei Sokolow) hat, nicht einmal im Drehbuch stand! Berichten zufolge brauchte der Regisseur sieben Stunden, um die jungen Schauspieler zu überreden, in dieser gewagten Episode mitzuspielen. Letztendlich bekam Pitschul, was er wollte, und sein sozial-realistischer Film verdiente sich seinen Platz als einer der kühnsten und mitreißendsten des sowjetischen Kinos.

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