Vor langer Zeit, als die meisten Russen noch nicht lesen und schreiben konnten, kannten sie Tausende von Märchen, die sie von Generation zu Generation weitergaben. Nicht nur Kinder lauschten gerne den Geschichten, sondern auch die Erwachsenen, abends beim Flechten der Bastschuhe oder anderen Arbeiten. Es waren Alltagsgeschichten mit einer Moral, Fabeln über Tiere und fantastische Wesen, die in Wäldern, Flüssen und Sümpfen leben, oder auch Märchen über Prinzessinnen und Prinzen. Diese Erzählungen haben den Charakter des russischen Volkes und sein kulturelles Erbe geprägt.
Alle russischen Schriftsteller und Dichter sind mit russischen Märchen aufgewachsen und viele haben deren Handlungen für ihre eigenen Werke adaptiert oder verwendet. Viele Kunstmärchen sind so eng mit dem Volk verbunden, dass heutzutage nicht jeder mehr weiß, welche Werke Volksmärchen sind und welche der Phantasie eines Schriftstellers entstammen.
- Kolobok
Die Geschichte ist kumulativ, d. h. derselbe Handlungsablauf wird wiederholt und jedes Mal ergänzt.
Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau (ein ziemlich häufiger Anfang für viele Märchen). Der alte Mann bat seine Frau darum, einen Kolobok (ein kugelförmiges Gebäck) zu backen. Es war kein Mehl mehr im Hause und die alte Frau „kratzte die Dose ab“, d. h. sie sammelte die letzten Mehlkrümel auf und backte einen Kolobok.
Sie legte ihn zum Abkühlen auf das Fensterbrett, aber er fiel herunter und rollte weg. Als er die Straße hinunterrollte, begegneten ihm ein Hase, ein Wolf und ein Bär. Alle drohten, ihn zu fressen, aber er war schlau und sang jedes Mal: „Ich habe meinen Opa verlassen, ich habe meine Oma verlassen, und ich entkomme auch dir“. Dreimal gelang es ihm, der Gefahr zu entrinnen, aber dann traf er den Fuchs – der überlistete ihn und fraß ihn schließlich auf.
Das Volksmärchen vom Kolobok ist in Russland sehr populär. Am bekanntesten ist es in der Version von Konstantin Uschinskij, einem bedeutenden Lehrer des 19. Jahrhunderts und Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik in Russland.
- Repka (Das Rübchen)
Der Großvater pflanzte eine Rübe. Als sie groß war, wollte er sie ernten. Er zog und zog, aber er konnte sie nicht herausziehen. Er rief die Großmutter, die Enkelin, den Hund und die Katze hinzu, aber allesamt konnten die Rübe nicht herausziehen. Schließlich baten sie die Maus zu Hilfe – und nur mit ihrer Hilfe schafften sie es gemeinsam. Die Geschichte lehrt uns, dass alles gut wird, wenn man nur zusammenarbeitet und sich nicht scheuen sollte, um Hilfe zu bitten.
Die Allegorie der Rübe gefiel vielen Schriftstellern und die Geschichte wurde mehrfach umgeschrieben. Sie diente auch als Grundlage für Satire. Während des Ersten Weltkriegs gab es sogar Karikaturen zum „Rüben-Komplott“: „Großvater Kaiser Franz Josef säte die Rübe in Form eines Weltkrieges und forderte die europäischen Staatsoberhäupter auf, ihm beim Ausreißen der Rübe zu helfen. Jahre später war in der sowjetischen Propaganda der Großvater das Kapital, das an der roten revolutionären Rübe ziehen wollte.
- Auf Geheiß des Hechtes
Dies ist eines der typischsten Märchen, denn sein Held ist zwar faul und einfältig, aber gutmütig und verlässt sich auf das Glück – getreu dem russischen Motto Es wird schon alles gut gehen!
Der Dorftrottel Jemelja fängt einen magischen Hecht, der ihm alle seine Wünsche zu erfüllen verspricht, wenn er ihn verschont. Jemelja benutzt die Zauberkraft des Fisches für alles, wozu er zu faul ist – „auf Geheiß des Hechtes“ hackt die Axt das Brennholz, die Eimer gehen selbst Wasser holen und so weiter. Jemelja ist sogar zu faul, von seinem warmen Ofen aufzustehen, dass er ihm befiehlt, ihn durch die Gegend zu kutschieren und dieser dabei alle Menschen um sich herum erdrückt. Am Ende heiratet Jemelja die Zarentochter!
- Morosko
Dies ist die russische Version des Märchens vom Aschenputtel. Die böse Stiefmutter mag ihre Stieftochter Marfuscha (in der sowjetischen Verfilmung heißt sie Nastjenka) nicht und bittet ihren Mann (d. h. den Vater des Mädchens), sie im Winter in den Wald zu bringen und dort zu lassen. Das Mädchen wird vom Zauberer Morosko gefunden und dreimal gefragt, ob ihm warm sei. Das zitternde Mädchen antwortet klaglos, ihm sei warm und Morosko, gerührt von ihrer Bescheidenheit, rettet sie und beschenkt sie mit Gold und Silber sowie einem Pelzmantel.
Vom Neid gequält befiehlt die böse Stiefmutter, ihre launische Töchter ebenfalls und sie in den Wald zu bringen, aber sie sind nicht so nett zu Morosko und er lässt sie in der Kälte stehen.
- Baba Jagá
Baba Jagá wird immer noch von allen russischen Kindern gefürchtet. Diese alte Hexe lebt im Wald in einer Hütte auf Hühnerbeinen und fliegt in einem Wasserzuber. Die Stiefmutter schickt ihre ungeliebte Stieftochter in Baba Jagás Dienste. Diese zwingt das Mädchen zur Arbeit, aber es stellt sich heraus, dass sie es eigentlich essen will! Das Mädchen plant seine Flucht und die Tiere des Waldes und sogar leblose Gegenstände helfen ihr, weil sie zu allen freundlich ist. Als der Vater erfährt, dass seine Frau das Mädchen in den sicheren Tod geschickt hat, wird er sehr wütend und wirft sie hinaus.
Es gibt jedoch auch eine andere Version des Märchens, in der der Vater selbst seine Tochter zur Hexe bringt (wie in Morosko auf Geheiß seiner bösen Frau). Dort sind das Mädchen und die Baba Jagá sogar befreundet, aber der Vater stiehlt das Mädchen, bringt es dann wieder zurück – und die wütende Baba Jagá hinterlässt ihm nur die Knochen des Mädchens...
- Iwan Zarewitsch und der Graue Wolf
Ein König schickte seine drei Söhne aus, um den magischen Feuervogel mit goldenen Federn zu finden. Der jüngste, Iwan Zarewitsch, scheiterte gleich zu Beginn – sein Pferd wurde bei einer Rast von einem Wolf gefressen. Aber der junge Mann war so traurig, dass sogar der Wolf Mitleid hatte und seine Hilfe anbot. Also machte sich Iwan auf die Suche nach dem Feuervogel und ritt auf dem grauen Wolf. Das Tier erwies sich als sehr schlau und listig, und dank ihm fand der Zarewitsch nicht nur den Vogel, sondern auch seine Liebe – Jelena die Schöne, die er und der Wolf einem anderen Zaren durch eine List gestohlen hatten. Später versuchen jedoch seine eigenen Brüder, ihm eine Falle zu stellen... Aber in russischen Märchen siegen immer Güte und Ehre.
Das Volksmärchen vom Feuervogel und dem Zauberpferd wird auch in Pjotr Jerschows Erzählung Das bucklige Pferdchen (1834) verwendet. Zu Sowjetzeiten war es eines der beliebtesten Märchenbücher, das in großer Zahl herausgegeben und in vielen Kindertheatern aufgeführt wurde.
- Schwester Aljonuschka und Bruder Iwanuschka
Die Handlung dieses Märchens erinnert an Brüderchen und Schwesterchen von den Gebrüdern Grimm. Zwei Waisenkinder, Aljonuschka und Iwanuschka, wandern lange Zeit umher, Iwanuschka hat Durst, aber an verschiedenen Gewässern treffen sie verschiedene Tiere. Aljonuschka verbietet ihrem Bruder zu trinken und warnt ihn, dass er sich in eines der Tiere verwandeln werde. Aber Iwanuschka, der den Durst nicht länger ertragen kann, gehorcht nicht, trinkt vom Wasser und verwandelt sich in eine kleine Ziege. Aljonuschka weint und zieht mit dem Zicklein weiter. Plötzlich reitet der schöne Prinz auf sie zu. Er hat Mitleid mit dem armen Waisenmädchen und will es heiraten. Doch da wirft eine böse Hexe, die eifersüchtig auf ihr Glück ist, Aljonuschka mit einem Stein um den Hals ins Meer. Der Prinz ist traurig und das Zicklein rennt immer wieder ins Meer – und bringt den Prinzen schließlich selbst dorthin. Aljonuschka wird herausgefischt – sie ist gesund und munter, aber die Hexe wird hingerichtet!