Nach Stalins Tod kam es in der Sowjetunion zu einer „Tauwetterperiode“. Das öffentliche und politische Leben wurde liberalisiert und die Möglichkeit der kreativen Selbstdarstellung kehrte auf die Leinwand zurück. Es erschien eine ganze Reihe von Regisseuren, die als die sowjetische Neue Welle bezeichnet wurden. Sie alle waren Absolventen des WGIK (Gerassimow-Institut für Kinematographie), der ersten Filmhochschule der Welt, und sie alle fühlten sich als Teil des globalen Filmgeschehens.
Tarkowskij ist nicht nur der berühmteste Vertreter dieser Neuen Welle, sondern auch der außergewöhnlichste. Er schuf seinen eigenen visuellen Stil. Seine eindringliche religiöse und moralische Suche war für das sowjetische Kino höchst ungewöhnlich. Auf seinem Grabstein (er ist in der Nähe von Paris auf dem Friedhof Saint-Genevieve-de-Bois begraben) steht: Für den Menschen, der einen Engel sah.
Arsenij Tarkowskij.
Vladimir Bogdanov/MAMM/MDF/russiainphoto.ruSein Vater, Arsenij Tarkowskij, war lange Zeit als Übersetzer orientalischer Poesie bekannt. Er veröffentlichte seine erste Sammlung jedoch erst im Alter von 55 Jahren. Heute gilt er als einer der größten Dichter der Nachkriegszeit. Tarkowskij Senior hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinem Sohn – er verließ die Familie, als Andrej noch ein Kind war. Die damit verbundenen Kindheitserinnerungen bildeten die Grundlage für den Film Der Spiegel (1974), das Meisterwerk des Regisseurs.
Dennoch schätzte der Andrej die dichterische Begabung seines Vaters und verwendete dessen Gedichte in drei seiner Filme. Eines davon, Nun ist der Sommer vorbei (in Stalker wird es rezitiert von Alexander Kajdanowskij, der die Titelrolle verkörpert), wurde während der Perestroika vertont und zu einem Hit.
Tarkowskij in Venedig.
Keystone/Hulton Archive/Getty ImagesWeltberühmt wurde er im Alter von 30 Jahren, als er 1962 bei den Filmfestspielen von Venedig sensationell den Goldenen Löwen gewann – mit dem Film Iwans Kindheit, einem Kriegsdrama über einen Jungen, der zum Kundschafter wird. Ursprünglich hatte ein anderer Regisseur begonnen, diesen Film zu drehen, scheiterte aber. Tarkowskij schrieb zusammen mit seinem Co-Autor das Drehbuch um und drehte das gesamte Material neu. Ironischerweise blieb diese Auszeichnung seine größte Trophäe – die sowjetischen Behörden ließen seine weiteren Filme nicht an internationalen Wettbewerben teilnehmen.
Andrej Tarkowskij bei der Arbeit an dem Film „Andrej Rubljow“, 1966
V.Plotnikov/TASSDas gesamte kreative Leben des Regisseurs war geprägt vom Kampf gegen die Zensur. Seine Drehbücher wurden nicht zugelassen, die fertigen Projekte wurden überarbeitet und verschwanden in der „Schublade“. Während seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Karriere in der Sowjetunion führte Tarkowskij nur bei sechs abendfüllenden Filmen Regie. Schließlich wanderte er ins Ausland aus, drehte dort jedoch nur noch einen einzigen Film: Opfer (1986). Er starb in Paris im Alter von 54 Jahren an Lungenkrebs.
Paradoxerweise wurde ihm gleichzeitig mehr erlaubt als den meisten seiner Kollegen. Selbst die Beamten konnten sein Talent nicht ganz ignorieren. Nach dem Erfolg von Iwans Kindheit durfte das Nachwuchstalent bei Andrej Rubljow (1966) Regie führen. Der teure, groß angelegte Film handelt von einem genialen russischen Ikonenmaler mit ungewissen kommerziellen Aussichten.
Bei Stalker vereitelten technische Unzulänglichkeiten und kreative Probleme zweimal die Dreharbeiten, doch Tarkowskij erhielt für einen dritten Versuch ein bis dahin nie dagewesenes Budget und der Film kam 1979 schließlich auf die Leinwand.
Tarkowskij bei der Verfilmung von „Der Spiegel", 1974
Igor Gnevashev/MAMM/MDF/russiainphoto.ruTarkowskij war in seiner Jugend in schlechte Gesellschaft geraten. Deshalb sorgte seine Mutter dafür, dass er ein Jahr lang an einer geologischen Expedition teilnahm. Eines Nachts, als er in einem Biwak schlief, hörte er zweimal eine geheimnisvolle Stimme, die ihm befahl, nach draußen zu gehen. Als Tarkowskij gehorchte, stürzte eine alte Kiefer auf seinen Unterstand und zertrümmerte die Hütte. Seitdem glaubte der Regisseur an Omen, interessierte sich für das Paranormale und kommunizierte mit Hellsehern. Hypnose und Hellsehen wurden in seinen Filmen mehr als einmal thematisiert.
Andrej Tarkowskij und Alexander Kajdanowskij bei den Dreharbeiten des Filmes „Stalker", 1978
Grigory Verkhovensky, Igor Gnevashev/MAMM/MDF/russiainphoto.ruTarkowskijs Solaris (1972) gilt als Klassiker des internationalen SciFi-Films. Der polnische Schriftsteller Stanisław Lem, von dem die Geschichte über den vernunftbegabten Ozeanplaneten stammt, haderte jedoch mit dem Film, da der Regisseur seine Idee vollkommen anders interpretierte. „Tarkowskij drehte Schuld und Sühne und nicht Solaris“, äußerte der Autor. Gleichzeitig lässt sich nicht verleugnen, dass der Film die Popularität des Buchs deutlich steigerte – James Cameron träumte lange davon, seine eigene Version zu drehen, und Steven Soderbergh gelang dies schließlich im Jahre 2002.
In Stalker wollte Tarkowskij sich noch weiter von der Vorlage, dem Roman Picknick am Wegesrand der Gebrüder Strugatskij entfernen, was diese jedoch nicht störte – sie schrieben selbst eine Vielzahl von Drehbuchvarianten. Im Jahr 2016 wurde in Amerika der Versuch unternommen, eine näher am Text angelehnte Fernsehserie zu drehen, aber das Projekt wurde nach der Pilotfolge eingestampft. Letztes Jahr erschien in Japan die zwölfteilige Anime-Serie Otherside Picnic, die von dem russischen Roman inspiriert wurde.
Er verlangte immer viel von sich und seinem Umfeld, insbesondere von seinen Kollegen. Sein Tagebuch ist voll von abfälligen Bemerkungen über die Arbeit von sowjetischen und internationalen Regisseuren – angefangen bei Stanley Kubrick bis hin zu Woody Allen. Er nahm nie ein Blatt vor den Mund. Als Lars von Trier, ein Fan von Tarkowskij, dem Idol seinen Film Spuren des Verbrechens (engl. Titel: The Element of Crime) zeigte, bezeichnete dieser den Streifen ohne Umschweife als „komplette Sch….“. Nichtsdestotrotz widmete der Däne seinen 2009 gedrehten Film Antichrist seinem Idol Tarkowskij.
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