„Der Herr der Ringe“: Wurde Tolkiens Mordor von der UdSSR inspiriert?

Kultur
NIKOLAJ KORNAZKIJ
Wie sich herausstellt, ließ J. R. R. Tolkien sich beim Schreiben von „Der Herr der Ringe“ und „Der Hobbit“ teilweise von russischen und slawischen Kulturen inspirieren. Und das nicht nur in seiner Darstellung von Mordor.

Mordor, der Sitz von Sauron, dem Bösewicht in John R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe, lag im Osten von Mittelerde, dem Namen, den der Schriftsteller dem imaginären Kontinent gab, über den er in seinem berühmten Buch erzählt. Aufgrund der geografischen Lage sahen während des Kalten Krieges viele westliche Leser Mordor als eine Allegorie für die UdSSR. Tolkien selbst, ein Gegner eindeutiger Metaphern und direkter politischer Anspielungen, wehrte sich gegen eine solche Lesart. Sauron lebte ursprünglich im Norden, so der Autor, und zog erst dann über die Gebirgsketten hinweg in den Osten, wo er sich sicher fühlte. Das war's, kein doppelter Boden, sondern nur die Logik der Handlung. Und alle Handlungen finden auf unserer Erde in ferner Vergangenheit statt und haben nichts mit der jüngeren Geschichte oder gar der Gegenwart zu tun.

Die UdSSR ist also nicht Mordor. Dennoch gibt es in Mittelerde immer noch etwas Russisches (und Slawisches).

Ein Bärendienst

Eine der mächtigsten Figuren in der Geschichte des Hobbits ist der Krieger Beorn, ein Werwolfmann, der sich in einen Bären verwandeln kann. Es war seine Teilnahme an der berühmten Schlacht der Fünf Heere auf der Seite der Menschen, Elfen und Zwerge, die den Ausgang der Schlacht entschied – in Bärengestalt schlug er Orks und Wargs (riesige Wölfe) in die Flucht. Wie die Wissenschaft feststellt, wurde das Bild von dem Schriftsteller geschaffen, der sich von der skandinavischen Mythologie und der angelsächsischen Epik inspirieren ließ: Seine engsten literarischen Verwandten sind Berserker und Beowulf. In der Filmtrilogie Der Hobbit wird Peter Jacksons Beorn von dem schwedischen Schauspieler Mikael Persbrandt verkörpert.

Der Name des Helden ist aus dem Altenglischen abgeleitet und bedeutet übersetzt Bär. In den Entwürfen zum Buch hatte er jedoch einen ganz andern Namen: Medwed. Das ist das russische Wort für Bär in lateinischer Schrift. Auch eines der Kapitel von Der Hobbit (das später in Ein seltsames Quartier umbenannt wurde) trug ursprünglich diesen Namen. Der Wissenschaftler Douglas A. Anderson vermutet, dass Tolkien das Wort aus einem Kommentar zum Beowulf-Gedicht von seinem Schriftstellerkollegen R. W. Chambers, einem Professor für Englisch am University College London, übernommen hatte.

Chambers führt eine lange Liste von Weltfolklore über Halbmenschen und Halbbären an und erwähnt insbesondere das russische Märchen Iwanko Medwedko – es ist in der berühmten Sammlung Alexander Afanasjews enthalten, die im Ausland recht bekannt ist. Iwanko Medwedko ähnelt Beorn in vielerlei Hinsicht – in seiner Stärke, seinem Witz, seiner Wildheit, seiner Herkunft (sie sind beide Kinder einer Frau und eines Bären). Es ist daher nicht verwunderlich, dass Tolkien dieses Wort verwenden wollte. Kurz vor der Veröffentlichung änderte er jedoch seine Meinung und gab der Figur einen angelsächsischen Namen, damit Beorn stilistisch nicht heraussticht.

Ein bisschen langsamer, Kaninchen.

Beorn hatte einen Freund, Radagast. Der war ein Freund der Tiere und Vögel, ein Einsiedler und Kauz. Die Figur im Film (gespielt von dem Schotten Sylvester McCoy) ist noch exzentrischer als die in den Büchern: Er trägt selbst bei heißem Wetter einen Pelz, fährt auf einem Schlitten, der von Riesenkaninchen gezogen wird, und isst Pilze. Die Freundschaft zwischen Gandalf und dem Zauberer ist Hunderte von Jahren alt, und es ist Radagast, der im ersten Buch von Herr der Ringe einen Adler schickt, um Gandalf aus der Gefangenschaft des bösen Zauberers Saruman zu befreien.

Tolkien-Experten diskutieren immer noch über den Ursprung des Namens Radagast, wobei eine der überzeugendsten Versionen auf norddeutsche Chroniken verweist. Den Chronisten und Historikern Helmold, Pistorius, Adam von Bremen und vielen anderen zufolge verehrten die Westslawen in der Antike die oberste Gottheit Radagast (Radegast). Der Philologe Jakob Grimm bezeichnet ihn ausdrücklich als eine slawische Version des skandinavischen Odin. Unter anderem wird Radegast in Nikolai Rimski-Korsakows Opernballett Mlada, das auf der Folklore der baltischen Slawen basiert, mehrfach erwähnt – mehrere Szenen spielen sich sogar am Fuße eines ihm gewidmeten heidnischen Tempels ab.

Die Elfen sprechen ein wenig Russisch

Tolkien war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Linguist, und seine fiktiven Romane könnten als praktisches Labor für die Entwicklung alternativer Sprachen auf der Grundlage realer Sprachen betrachtet werden. „Die ,Geschichten‘ wurden eher geschrieben, um eine Welt für diese Sprachen zu schaffen, als umgekehrt. Für mich kommt zuerst ein Wort und dann die Geschichte, die damit verbunden ist“. Insgesamt entwickelte er – mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad – mehr als zwanzig neue Sprachen, die den modernen Sprachen in unterschiedlichem Maße ähneln. Und Russisch ist eine davon.

Tolkien versuchte in seiner Jugend aufrichtig, die Sprache von Tolstoi und Dostojewski zu lernen, und obwohl es ihm nicht gelang, war er nach eigener Aussage von ihrer Morphemstruktur und ihrem Klang beeindruckt. Neben Medwed findet sich in seinen Aufzeichnungen auch eine Illustration mit entsprechendem Untertitel zu dem Treidler-Lied „Ei, uchnem“. In den Büchern wird zum Beispiel das russische Wort великий (welikij) verwendet. Das Toponym Haloisi Velike im Elfen-Dialekt Quenya bedeutet Großes Meer. Auch wird das Volk der Variags erwähnt – варяги (warjagi) ist die russische Bezeichnung für Wikinger. Und Ivan A. Derzhanski, Autor der J. R. R. Tolkien Encyclopedia, weist darauf hin, dass in Quenya häufig das russische Diminutivsuffix -inka verwendet wird, z.B. KatinkaKerze, patinkaHausschuhe.

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