Elfen in Moskau: 5 Fakten über Tolkienisten in der UdSSR und Russland

Kira Lisitskaya (Photo: Legion Media; Peter Jackson/New Line Cinema,2001)
Im September 2022 begann die Ausstrahlung der Serie „Ringe der Macht“, einer Vorgeschichte zur berühmten Herr-der-Ringe-Trilogie, die auf dem Kultroman von John R.R. Tolkien basiert. Die Liebe zu dem Schriftsteller und seinen Büchern hat in Russland eine lange Tradition, die bis in die Zeit der sowjetischen Tauwetterperiode zurückreicht.

Die ersten Übersetzungen von Tolkien wurden im Samisdat verbreitet

Bereits in den Sechzigerjahren erreichte der Ruhm Tolkiens die Sowjetunion. Die Bücher wurden von den damals seltenen Auslandsreisen mitgebracht und gingen dann durch die Hände derjenigen, die Englisch konnten. Zu den ersten Lesern von Tolkien gehörte Boris Grebenstschikow, der spätere Gründer der Rockband Aquarium. Es war der Roman Der Herr der Ringe, der den Musiker zu einem Fan des Fantasy-Genres machte und den Inhalt seiner frühen Lieder beeinflusste. Sogar der Name der Band auf dem Album Dreieck ist in zwei von Tolkien erfundenen elbischen Schriftarten geschrieben – Tengwar und Cirth.

Russische Übersetzungen von Der Herr der Ringe wurden von Amateurübersetzern verbreitet. Der Text wurde auf mechanischen Schreibmaschinen mit Kohlepapier vervielfältigt und die Kopien dann selbst zu einem Buch gebunden. Es gibt mindestens acht vollständige oder teilweise Übersetzungen des Romans aus der Sowjetzeit. Die am weitesten verbreitete und dem Original am nächsten kommende Fassung stammt von dem Permer Philologen Alexander Grusberg (abgeschlossen 1976).

Erst 1982 veröffentlichte der Moskauer Verlag Detskaja literatura das Buch Die Wächter, eine gekürzte und kindgerechte Fassung des ersten Teils des Romans, in der die Übersetzer Andrej Kistjakowskij und Wladimir Murawjow versuchten, den Fantasy-Roman märchenhafter zu gestalten. Jahrelang stürmten junge Leser die Buchhandlungen und Bibliotheken auf der Suche nach einer Fortsetzung, die es jedoch nicht gab – der Roman sollte erst in den Neunzigerjahren vollständig veröffentlicht werden.

Die erste sowjetische Tolkien-Fanfic war eine Kreuzung aus Der Herr der Ringe und einem Roman Stanislav Lems

Eine der ersten Übersetzungen von Der Herr der Ringe (1966) kann auch als die erste Fanfiction angesehen werden. Sinaida Bobyr hat nicht nur den Text stark gekürzt, sondern auch neue Zeilen und ein neues Artefakt – die Silberkrone – eingefügt. In einer Version fügte sie sogar eine Science-Fiction-Entourage hinzu – hier sind alle Ereignisse des Romans Erzählungen von Figuren, die dem Roman Eden des Polen Stanislaw Lem entlehnt sind!

Der Handlung zufolge finden Wissenschaftler der Zukunft bei archäologischen Ausgrabungen den Einen Ring, verwenden Instrumente, um seine Geschichte zu „erfahren“, und versuchen im Laufe ihrer Forschung, eine wissenschaftliche Erklärung für das Geschehen zu finden. Mit anderen Worten: Die erste Tolkien-Fanfic war auch eine Lem-Fanfic. Bobyr hat dem Text absichtlich Gewalt angetan, um die Veröffentlichung der Übersetzung zu erleichtern – zu dieser Zeit gab es in der UdSSR einen Science-Fiction-Boom, während das Fantasy-Genre völlig unbekannt war.

Daher wurde Bobyrs Version ohne Science-Fiction erst Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht, als das Genre im Allgemeinen und Tolkien im Besonderen an Popularität gewonnen hatte. Es folgten weitere Fanfics. Insbesondere Nick Perumows dreibändiges Werk Ring der Finsternis, eine inoffizielle Fortsetzung von Der Herr der Ringe. Zunächst nur Tolkien-Imitatator, fand Perumow später seinen eigenen Stil und wurde zu einem der beliebtesten russischen Fantasy-Autoren.

In der UdSSR wurde Tolkien zweimal verfilmt. Die Rechteinhaber hatten keine Kenntnis davon

Die Geschichte vom Hobbit war eher ein Märchen und hatte in der UdSSR mehr Glück. Die erste Übersetzung wurde 1976 veröffentlicht. Drei Jahre später wurde Die Ballade vom glorreichen Bilbo Beutlin am beliebten Leningrader Theater des jungen Zuschauers aufgeführt und blieb fast zehn Jahre lang im Repertoire. Sie wurde sogar für das Fernsehen verfilmt. Die Urheberrechte ausländischer Autoren wurden in der UdSSR oft ignoriert – und auch dieses Mal wurde keine Genehmigung der Rechteinhaber eingeholt.

1985 wurde eine einstündige Adaption von Der Hobbit für die Reihe Märchen für Märchen des Leningrader Fernsehens in Form eines Fernsehspiels mit dem Titel Die fabelhafte Reise des Herrn Bilbo Beutlin verfilmt. Es war ein weiterer Versuch einer Theateradaption – allerdings im Studio und vor der Videokamera. Die Handlung war extrem verkürzt, die Schauspieler spielten in billigen Kostümen und mit billigem Make-up, aber es wurden einfache Spezialeffekte wie Rückprojektion eingesetzt.

Die Fernsehproduktion Chraníteli (dt.: Hüter) aus dem Jahr 1991 von demselben Leningrader Fernsehsender sieht ähnlich aus. Der Komponist der Filmmusik und gleichzeitig Erzähler war Andrej Romanow, einer der Gründer von Aquarium. Die Aufnahme galt lange als verschollen, doch 2021 wurde sie auf YouTube veröffentlicht. Die Online-Premiere erregte weltweites Medieninteresse. Die amerikanische Zeitschrift Variety veröffentlichte sogar einen großen Bericht über die Dreharbeiten.

Die ersten Tolkien-Rollenspiele fanden ein Jahr vor dem Zusammenbruch der UdSSR statt

Bereits in den späten Achtzigerjahren hatte sich in der UdSSR eine große Tolkien-Subkultur gebildet. Ihr Kern bestand aus Mitgliedern verschiedener Jugendbewegungen – Klubs von Fantasy-Fans (KFF), Klubs von Amateur-Sängern (KSP), „Kommunarden“ (die ersten sowjetischen Liebhaber von Rollenspielen) und Hippies.

Im Jahr 1990 fanden in Sibirien, in der Nähe von Krasnojarsk, die ersten Hobbit-Spiele statt – ein groß angelegtes Live-Action-Rollenspiel auf der Grundlage von Tolkiens Werken, das später zu einer jährlichen Veranstaltung wurde.

In den Neunzigerjahren war der traditionelle Treffpunkt für Tolkienisten die Lichtung im Neskutschnyj Sad, die von den Mitgliedern der Subkultur den Spitznamen Eglador erhielt – den Namen des ersten Elfenreichs von Mittelerde. Jeden Donnerstag strömten junge Leute in Umhängen aus Gardinen und mit Schilden aus Verkehrszeichen dorthin.

Die Liebe zu Tolkien hat in Russland nicht nachgelassen

Peter Jacksons Verfilmung von Der Herr der Ringe hat der Tolkien-Bewegung neuen Auftrieb gegeben. Laut der Volkszählung 2002 gaben sich rund 600.000 Menschen als Elfen, Hobbits oder andere fiktive Nationalitäten zu erkennen. Einige trugen nicht nur Elfenmäntel und ließen sich die Haare wachsen – die Zeitungen der frühen Zweitausenderjahre schrieben über Schönheitsoperationen zur „Verlängerung“ von Ohren.

Nicht alle Tolkienisten sind zwangsläufig Rollenspieler. Einige von ihnen schreiben Bücher, Gedichte und Lieder, die auf Tolkiens Welt basieren – manche sogar ganz professionell. So hat die Moskauer Metro 2017 mit dem Russischen Präsidentenorchester eine Oper nach Motiven des Silmarillion in elbischer Sprache uraufgeführt. Tolkiens Motive sind im Solowerk der Rocksängerin Helavisa (der Folkband Melniza) und in den Liedern der Metalband Epidemia zu hören.

Unter den Tolkienisten gibt es auch diejenigen, die die von Tolkien erfundene Welt studieren, die Biografie des Schriftstellers erforschen und seine unveröffentlichten Werke übersetzen. Es werden wissenschaftliche Konferenzen und Seminare veranstaltet, Dissertationen verteidigt und Monographien verfasst.

Oper

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