Fünf Verführungsszenen der klassischen russischen Literatur

Hans Matheson und Keira Knightley in "Doktor Schiwago".

Hans Matheson und Keira Knightley in "Doktor Schiwago".

Giacomo Campiotti/Public Broadcasting Service, 2002
In vergangenen Zeiten war der erste, vorsichtige Kuss bereits fast schon ein Heiratsantrag. Intimere Momente oder gar Sex waren ein Tabu. Romanautoren mussten Verführung und Romantik schildern, ohne den Zorn der Zensoren zu wecken. Das spiegelt sich auch in den Klassikern der russischen Literatur wider.

„Anna Karenina“, Leo Tolstoi 

Elizaweta Bojarskaja und Maksim Matveew in „Anna Karenina“.

Anna Karenina und Alexej Wronski trafen sich erstmals auf einem Moskauer Bahnhof. Sie war verheiratet, er war Single. Das Unvermeidliche musste passieren, ein Jahr später nahm das Drama seinen Lauf. Tolstoi beschrieb die erste Liebesszene der beiden nicht direkt. Dafür schilderte er, wie sie sich am Tag danach von Scham erfüllt über ihre gemeinsame Liebesnacht unterhielten. Der Geschlechtsakt markiert gleichzeitig auch den Anfang vom Ende der verhängnisvollen Beziehung. 

Anna fühlte sich so schrecklich schuldig, dass sie sich nur noch selbst geißeln und um Vergebung bitten wollte. Alexei fühlte das, was auch ein Mörder fühlen sollte, wenn er den Körper sieht, dem er gerade das Leben genommen hat. So wie der Mörder mit einer Mischung aus Reue, Verbitterung und Leidenschaft die Leiche zerstückelt und versteckt, bedeckte er ihr Gesicht und ihre Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand und bewegte sich nicht. Es waren doch diese Küsse, mit denen die Schande angefangen hatte. 

„Die arme Lisa“, Nikolai Karamzin 

Erast und Liza in einem animierten sowjetischen Cartoon.

Die 1792 erschienene Kurzgeschichte war ihrer Zeit weit voraus. Karamzin mischt hier Sentimentalität, Emotion und menschliche Dramen mit dem typischen Ernst der russischen Literatur. 

Die Handlung dreht sich um den reichen Aristokraten Erast und das 17-jährige Bauernmädchen Lisa. In der damaligen Zeit mit ihren unüberwindbaren Klassenunterschieden war diese Liebe zum Scheitern verurteilt. Erasts Kuss stürzt Lisa in einen tödlichen Abgrund. 

Erast spürte eine besondere Aufregung in seinem Körper aufkommen. Nie erschien ihm Lisa so anziehend. Nie zuvor war ihr Streicheln so aufreizend, nie zuvor waren ihre Küsse so leidenschaftlich. Sie wusste nichts, ahnte nichts und hatte vor nichts Angst. Die Dunkelheit des Abends steigerte das Verlangen weiter. Kein Stern war am Himmel zu sehen, kein Lichtstrahl konnte die Illusion zerstören. 

"Doktor Schiwago", Boris Pasternak 

Hans Matheson als Juri Schiwago und Keira Knightley als Lara.

Wie so oft in der Literatur ist auch Pasternaks Protagonist Juri Schiwago zwischen zwei komplett unterschiedlichen Frauen zerrissen. Auf der einen Seite seine Frau, die milde, mütterliche Tanja und auf der anderen Seite die mutige, offen erotische Lara Antipowa. Selbstverständlich wird Lara zu Juris Geliebter.

Diese verletzlich wirkende, dünne Frau wirkt, als hätte sich alle Weiblichkeit der Welt in ihr entladen. Wenn man sich ihr nähert und sie auch nur mit einem Finger berührt, geht der Funke über. Entweder stirbt man auf der Stelle oder man ist von diesem Moment an selbst von ihr besessen. 

„Sie hätte nie gedacht, dass er so gut tanzen kann. Wie geschickt er mit seinen Händen war, wie selbstbewusst er sie an ihre Hüfte griff. Er faszinierte sie. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich so küssen lassen würde. So viel Schamlosigkeit, konzentriert in seinen Lippen, die er nun auch noch an ihre Lippen presste.“

„Dunkle Alleen“,  Iwan Bunin 

Ein Standbild aus dem Film

Kein russischer Autor war in seinen Verführungsszenen so explizit wie der spätere Nobelpreisträger Iwan Bunin. In seiner Kurzgeschichtensammlung „Dunkle Alleen“ trieb er Liebe und Lust auf ein neues Level. 

Besonders leidenschaftlich geht es in der Geschichte „Galja Ganskaja“ zu. Der Hauptprotagonist, ein Künstler, verliebt sich in der Geschichte Hals über Kopf in Galja, die Tochter eines Freundes. Sie besuchen sein Atelier, essen Schokolade und er küsst „ihren warmen, rosanen Körper auf die oberste Stelle ihrer Schenkel, dann wieder auf ihren halb geöffneten Mund“. 

Kurz nach dieser Szene wird es sogar noch expliziter. 

„In einer Minute riss ich ihr ihre seidene weiße Bluse vom Leib. Meine Augen erstarrten beim Anblick ihres blassrosanen Körpers, ihrer von einem Korsett getragenen Brüste und ihrer dunkelroten Brustwarzen. Als ich sie auf das Sofa warf, erweiterten sich ihre Pupillen noch weiter, ihre Lippen öffneten sich. Sie war wirklich unheimlich leidenschaftlich.“  

„Der stille Don“, Michail Scholochow

Pjotr Glebow als Grigory und Elina Bystritskaja.

Das Historiendrama über das Leben der Donkosaken im ersten Weltkrieg ist voll von Liebe, Verrat und gebrochenen Herzen. Insbesondere die Nachbarn Aksinja und Grigori sind unglücklich ineinander verliebt. Aksinja ist verheiratet, aber unglücklich. Mit 17 Jahren vergewaltigte ihr eigener Vater sie. Kurz darauf musste sie Stepan heiraten, der sie verprügelte, als er bemerkte, dass sie keine Jungfrau mehr war. Stepan betrügt sie, auch ein Kind kann die Beziehung nicht mehr retten. Aksinja verliebt sich unsterblich in Grigori. 

Grigorijs Herz pochte. Er machte einen Schritt nach vorne, warf seinen Mantel zurück und umarmte die verängstigte Aksinja. Ihre Beine wackelten, sie zitterte, bibberte, ihre Zähne schlugen aufeinander. Grigori nahm sie in den Arm und trug sie wie ein Wolf seine Beute. Außer Atem bewegte er sich weiter nach vorne. 

„Oh Grigooori…“

„Halt die Klappe!“ 

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