Sankt Petersburg im Ersten Weltkrieg: Alles Deutsche verboten

Newskij-Prospekt, die Hauptstrasse von Sankt Petersburg

Newskij-Prospekt, die Hauptstrasse von Sankt Petersburg

Karl Bulla, Bulla-Stiftung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte die deutsche Gemeinde zu den größten Minderheiten in Sankt Petersburg. Doch der Erste Weltkrieg löste eine Welle germanophober Stimmungen in der russischen Gesellschaft aus. RBTH sprach darüber mit Irina Tscherkasjanowa. Die promovierte Historikerin hat sich auf die tragische Geschichte der Deutschen in Russland spezialisiert.

Die Umbrüche des 20. Jahrhunderts – der Erste Weltkrieg, die Revolution – haben eine tragische Spur in der Geschichte der Russlanddeutschen hinterlassen. Wie kam es zu dieser Germanophobie, die zu Kriegsbeginn in Russland ausbrach?

Der Ausbruch war in der Tat kolossal, wurde größtenteils künstlich erzeugt und hatte weitreichende, tragische Folgen.

Solange einzelne deutsche Fürstentümer existierten, war alles einigermaßen ruhig. Als Deutschland sich aber vereinte und entschlossen in die erste Reihe Europas vordrang, wuchs die Unzufriedenheit mit den Deutschen schon Ende des 19. Jahrhunderts allmählich an. Der Erste Weltkrieg hat diese Prozesse beschleunigt.

Auf der Ebene der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Dynastien war der Krieg absoluter Unsinn: Ein Cousin – der deutsche Kaiser Wilhelm II. – und eine Cousine – die russische Kaiserin Alexandra Fjodorowna – führten gegeneinander Krieg. Zum Ausbruch germanophober Stimmungen kam es größtenteils im Herbst 1914, obwohl tiefergreifende und entschiedene Maßnahmen erst 1915 getroffen wurden.

"Feind des Menschengeschlechts" heißt dieses Plakat mit einem "Bösen Deutschen" von 1915 / Nicholas Roerich"Feind des Menschengeschlechts" heißt dieses Plakat mit einem "Bösen Deutschen" von 1915 / Nicholas Roerich

Die Öffentlichkeit reagierte sofort. Am 19. Juli wurde der Krieg erklärt, am 22. Juli wurde bekannt, dass der kaiserliche Zug von Maria Fjodorowna, der Mutter Nikolais II., in Deutschland aufgehalten und nicht nach Russland durchgelassen wird. Sobald dies bekannt war, wurde noch am selben Abend die neue deutsche Botschaft am Isaaksplatz verwüstet. In den umliegenden Vierteln gab es Pogrome, die Redaktion der „Petersburgischen Zeitung“ wurde gestürmt.

Was hatte das mit den Deutschen von Petersburg zu tun?

Gar nichts: Sie provozierten die Konflikte nicht und zeigten vom ersten Tag an ihre Loyalität gegenüber dem russischen Zaren. Ja, es gab viele ausländische Bürger, aber an der Finanzierung der deutschen Armee beteiligten sie sich nicht. Sie verdienten einfach ihr Geld, lebten hier seit Jahrzehnten.

Der Kinderarzt Karl Andrejewitsch Rauchfuß zum Beispiel gründete die erste Kinderklinik von Sankt Petersburg und war deren erster Chefarzt. Bis 1865 war er deutscher Staatsbürger, ohne jemals in Deutschland gelebt zu haben. Viele lebten so, ohne dem große Bedeutung beizumessen.

Mit dem Kriegsausbruch begann die Hexenjagd nach Spionen. Es kam einer Massenpsychose gleich. Ihr fielen zuallererst Offiziere und Bildungsbürger mit deutschen Nachnamen zum Opfer. Deutsche Vereine wurden verboten, auch die Mitgliedschaft in russischen Organisationen war Ausländern von da an untersagt. Die Akademie der Wissenschaft wurde gezwungen, ihre ausländischen Ehrenmitglieder auszuschließen. In der Öffentlichkeit, auf der Straße, wurde es unmöglich, Deutsch zu sprechen, Predigten in deutscher Sprache und Deutschunterricht wurden verboten. In Petersburg wurden an die zehn deutsche Zeitungen geschlossen, Aushängeschilder entfernt. Das Ganze wurde bis ins Abstruse getrieben: Es kam soweit, dass man nicht wusste, in welcher Sprache Grabschriften geschrieben werden durften.

Aus diesem Grund wurde auch die Hauptstadt umbenannt. Wie reagierte die Öffentlichkeit darauf?

Ja, einen Monat nach Kriegsbeginn wurde die Umbenennung der Stadt angeordnet, von Petersburg in Petrograd, und größtenteils stieß das auf Begeisterung. Unzufriedene gab es innerhalb der Intelligenzija: Wenn man die Stadt ihres historischen Namens beraube, rühre man an der Seele der Stadt. Dadurch habe man auf die eigene Geschichte und einen sehr wichtigen Namenszusatz – das Wort „Sankt“ für „Heilig“ – abgeschlagen. Danach wurden im Russischen Kaiserreich alle Ortschaften umbenannt, die ein „Burg“, „Feld“ oder „Wald“ in ihrem Namen trugen.

Ab dem 18. August 1914 heißt Sankt Petersburg auf Erlass von Nikolaus II. hin Petrograd.  / Public domain Ab dem 18. August 1914 heißt Sankt Petersburg auf Erlass von Nikolaus II. hin Petrograd. / Public domain

Welche Folgen hatte die Germanophobie für die Wirtschaft?

Zunächst war die Anti-Deutschland-Kampagne oberflächlich, erst später griff sie auf die Wirtschaft über. Die Folgen waren dennoch gravierend.

1915 wurden sogenannte Liquidationsgesetze erlassen: Den Deutschen wurde das Recht auf Grundbesitz und -nutzung entzogen. Sie mussten ihren Grund und Boden verkaufen. Das waren oft große Grundstücke. In der Landwirtschaft waren die Deutschen sehr präsent – das Mehl für Petersburg und Moskau beispielsweise kam aus den Wolga-Kolonien. Erst die provisorische Regierung hob diese Gesetze im März 1917 wieder auf.

Schon 1915 wurden Deutsche zudem aus den Grenzregionen deportiert. Die Deutschen von Wolyn etwa (heute ukrainisches Gebiet, Anfang des 20. Jahrhunderts Teil des Russischen Kaiserreichs – Anm. d. Red.) wurden zu Tausenden in den Ural oder nach Sibirien verbannt.

1916 wurde innerhalb des Ministerrats ein Ausschuss zum Kampf gegen deutschen Einfluss gegründet – seitdem wurden alle Verbote vom Zaren oder von Ministerien bestätigt. Vor allem das politische und militärische Establishment trug die Verantwortung dafür, was mit den Deutschen passierte. Die Menschen wurden als Zivilgefangene interniert, aus Großstädten verbannt, viele gingen selbst weg. Zwischen 1913 und 1921 ging die deutsche Bevölkerung Petrograds um die Hälfte zurück.

Nach Kriegsausbruch war Deutsch auf der Straße tabu, alle Schilder aud Deutsch wurden entfernt. Wie hier auf dem Newskij-Prospekt, der Hauptstrasse von Sankt Petersburg / Karl Bulla, Bulla-StiftungNach Kriegsausbruch war Deutsch auf der Straße tabu, alle Schilder aud Deutsch wurden entfernt. Wie hier auf dem Newskij-Prospekt, der Hauptstrasse von Sankt Petersburg / Karl Bulla, Bulla-Stiftung

Spürten sie die herannahende Revolution?

Ihnen war bewusst, wie schlecht es ist, dass Krieg herrscht. Innerhalb der russischen Intelligenzija und unter den Deutschen wurden immer wieder Stimmen laut, die sich für eine Revolution einsetzten. Der Schriftsteller und Übersetzer Kornej Tschukowski zum Beispiel war gegen diese Hysterie und Feindseligkeiten.

Die nüchtern denkende Intelligenzija verstand, dass die Erscheinungen vorübergehend waren und mit dem großen deutschen Volk, seiner Sprache und Literatur nichts zu tun hatten – und schon gar nicht mit jenen Deutschen, die dem russischen Hof und Staat über Jahrhunderte hinweg treu gedient hatten.

Die Unzufriedenheit mit dem Krieg, mit der Politik, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage schufen die Voraussetzungen für die Revolution. Je weniger Erfolge es an der Front gab, desto mehr verstanden alle, dass der Krieg nicht gut ausgehen würde. Die Deutschen, die während des Krieges gelitten hatten, begrüßten das Abdanken des Zaren mit Begeisterung.

Einer der wenigen Gegner des Krieges gegen Deutschland war der Politiker Sergej Witte, dessen Vater Deutscher war. Uns ist bekannt, dass er davor warnte, der Krieg könne mit Umstürzen in Deutschland und Russland enden. Sein Fehler war nur, dass die alte Ordnung zunächst in Russland und nicht in Deutschland zusammenbrach.

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