Zehn Highlights des sowjetischen Konstruktivismus – inspiriert vom Schweizer Le Corbusier

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OLGA MAMAJEWA
Anfang Oktober feierte die Welt den 130. Geburtstag von Le Corbusier (1887-1965), dem wichtigsten und einflussreichsten Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Genie bestimmte maßgeblich die Zukunft der Weltarchitektur – darunter auch das Stadtbild sowjetischer Metropolen.

Die Anhänger des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier (mit bürgerlichem Namen Charles-Édouard Jeanneret-Gris) wirkten auf der ganzen Welt und haben so die berühmten „Fünf Punkte einer neuen Architektur“ ihres großen Vorbilds weiterentwickelt. Laut diesem System soll die Gestaltung eines Gebäudes folgende architektonische Gestaltungsprinzipien folgen: Pfosten, Dachgärten, freie Grundrisse, Langfenster sowie freie Fassaden.

Obwohl der Architekt die Sowjetunion drei Mal besuchte, wurde nur ein Gebäude direkt nach seinem Plan erbaut: Der damalige Zentralverband der Konsumgenossenschaften (Zentrosojus) auf der Mjasnizkaja-Straße im Moskauer Zentrum. Aber seine Ideen verbreiteten sich durch ihre große Popularität unter sowjetischen Architekten weiter, deren von Le Corbusier inspirierten Bauwerke auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion bis heute zu bewundern sind.

1. Moskau: Narkomfin-Kommunenhaus

Es ist das berühmteste Denkmal des sowjetischen Konstruktivismus in Moskau. Das Gemeindehaus wurde von 1928 bis 1930 von den Architekten Moissei Ginsburg und Ignati Milinis für die Mitarbeiter des sowjetischen Finanzministeriums entworfen. Die Bauarbeiten wurden dabei von Finanzminister Nikolai Miljutin persönlich überwacht, für den das erste Penthouse der Welt auf dem Dach des Gebäudes eingerichtet wurde. Die Architekten bezeichneten das Projekt als Wohngebäude eines “Übergangstyps“, der von der “bürgerlichen” zur neuen sozialistischen Lebensweise führen sollte.

Im Wohnhaus wurden drei Arten von Wohnungen bzw. Wohnzellen konzipiert. Unten gab es die „Zelle K“ für traditionelles Familienleben: zweistöckige Dreizimmerwohnungen mit Küche und Badezimmer. Weiter oben befanden sich experimentelle Zellen für zwei Personen, doppelstöckige Wohnungen (2F) mit einer Fläche von circa 30 Quadratmetern.

Die kleinsten Zellen besitzen eine Mindestfläche von 15 Quadratmetern (F) und sind für eine Person ausgelegt. Für die Bewohner solcher Zellen war ein zusätzliches Gemeindehaus mit Wäscherei, Speisesaal und Bibliothek vorgesehen.  

2. Moskau: Gemeindehaus am Gogol-Boulevard

Bis 1929 stand an dieser Stelle die Kirche der Gottesmutter zu Rschew, errichtet einst zu Zeiten des Zaren Iwan der Schreckliche. Im 17. Jahrhundert wurde die Holzkirche durch ein Gotteshaus aus Stein ersetzt.

Aber dann wurde auch diese Kirche abgerissen, denn an ihrer Stelle entstand die Wohnsiedlung “Demonstratives Bauen”, die auch die Eigenschaften von Alt- und Neubauwohnungen in sich vereinte. Das Gebäude wurde von den Architekten des Narkomfin-Wohnhauses entworfen.

Der neue Wohnkomplex besteht aus zwei Wohngebäuden für Single- und Familienleben sowie einem zweistöckigen öffentlichen Gemeinschaftsgebäude. Nach der Vollendung im Jahr 1932 wohnten hier die berühmtesten Architekten der sowjetischen Avantgarde.

3. Moskau: Wohnheim des Textilinstituts

1929 entwarf der noch junge Architekt Iwan Nikolajew das Wohnheim des Textilinstituts, basierend auf die Prinzipien Le Corbusiers. In dem dem kyrillischen Buchstaben H ähnelden Gebäude sollten einmal 2000 Menschen nach einer streng definierten Ordnung leben und studieren.

Nikolajew schlug dazu eine utopische Idee vor, wie ein völlig neuer Mensch geschaffen werden könnte. Nach dem Bauplan musste das ganze Studentenleben innerhalb des Gebäudes stattfinden. Am Morgen sollten die jungen Leute die Schlafzimmer in Unterwäsche verlassen, sich in der Sanitäranlage duschen und anziehen. Danach gingen sie in die öffentlichen Gebäudeteile mit Esszimmer, Bibliothek, Fitnessstudio und Räumen für Einzelunterricht. Doch das soziale Experiment scheiterte. 

4. Moskau: Zentrosojus-Haus

Das Gebäude des ehemaligen Zentralverbands der Konsumgenossenschaften (Zentrosojus) auf der Mjasnizkaja-Straße 39 stammt aus den 1930er Jahren und ist das einzige Bauwerk in der ehemaligen Sowjetunion, das von dem berühmten französischen Architekten Le Corbusier persönlich entworfen wurde.

1928 gewann Le Corbusier den internationalen Architektenwettbewerb um die Gestaltung des Gebäudes, das wegen  Mangels an Baumaterialien jedoch erst 1936 fertiggestellt wurde.

Eine Besonderheit des Projekts waren die Rampen statt Treppen im Inneren. Damit wurden hier praktisch die ersten Open-Space-Büros der Welt eingerichtet. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung war es das größte Büro- und Verwaltungsgebäude in Europa.

5. Jekaterinburg: Tschekisten-Städtchen

Zu Sowjetzeiten funktionierte der Komplex wie “eine Stadt in der Stadt": Es gab Kontrollpunkte und der Eintritt war nur mit speziellen Pässen möglich. Der Komplex wurde 1929-1936 als Familienheim für die Angestellten des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes errichtet.

Das Projekt beruht auf der Idee eines des Gemeinschaftswohnens und besteht insgesamt aus 14 Blöcken. Außer den Wohngebäuden gibt es auch Haushaltsgebäude, einen Kindergarten, eine Poliklinik, ein elfstöckiges Wohnheim für Gäste aus dem Umfeld der Tscheka, einen Kulturclub mit Kantine und ein Verwaltungsgebäude.

6. Charkow (heute Ukraine): Gosprom-Haus

Mit 63 Metern ist dieses Gebäude der erste Wolkenkratzer der Sowjetunion und nahezu das einzige Beispiel für konstruktivistischen Hochhausbau. Das Gosprom-Haus (Haus der staatlichen Industrie, in der heutigen Ukraine „Derschprom“) wurde in kürzester Zeit – im Laufe von nur drei Jahren zwischen 1925-1928 – errichtet. Der riesige mehrstöckige Betonbau wurde fast manuell von fünftausend Arbeitern, enthusiastischen Freiwilligen und Studenten erbaut, die in drei Schichten arbeiteten. Das Projekt stammte von einer Architektengruppe, die als eine der ersten die von Le Corbusier entwickelten architektonischen Prinzipien auf das Verwaltungsgebäude übertrug, während der Meister selbst meist Privatvillen und Mehrfamilienhäuser entwarf.

Während der Besatzung durch die Wehrmacht-Truppen 1941-1943 befand sich im ersten Stock ein Stall. Auf den anderen Etagen lebten zu Beginn der Besatzung Affen, die aus dem nahegelegenen Zoo geflohen waren. Vor dem Rückzug im August 1943 wollten die Deutschen das Gosprom-Haus, wie so viele andere Gebäude der Stadt, in die Luft sprengen.

Doch die Explosion wurde von einem Unbekannten verhindert. Dann wurde das Gebäude in Brand gesetzt, doch den starken Stahlbetonkonstruktion konnte selbst Feuer nicht viel anhaben. In den ersten Nachkriegsjahren wurde das Gebäude restauriert.

7. Tiflis (Georgien): Verwaltungsgebäude des Straßenbauministeriums

Ein weiteres Beispiel für eine recht freie Interpretation der Prinzipien Le Corbusiers steht in der heute georgischen Hauptstadt. Das 1975 errichtete Gebäude besteht aus fünf horizontalen zweigeschossigen Blöcken.

Zum Zeitpunkt der Gestaltung war der Architekt Georgi Tschachawa gleichzeitig auch Verkehrsminister. Er wählte eine schwierige Baufläche: Der Höhenunterschied zwischen Straße und Böschung beträgt immerhin 33 Meter. “Ich denke, je komplexer das Relief ist, desto mehr Möglichkeiten hat der Architekt”, schrieb Tschachawa über seine Arbeit.

2007 wurde das Gebäude als nationales Baudenkmal anerkannt.

8. Jalta, Krim: Sanatorium „Kurpaty“

Das 1985 errichtete, dabei aber hochmoderne Gebäude „Druschba” („Freundschaft“) ist auf einem Grundstück mit schwierigem Profil an der Schwarzmeerküste gebaut worden – direkt am Hang. Darum entwarfen die Architekten das ungewöhnliche Design, das im Volk den Spitznamen „fliegende Untertasse“ trägt.

Der Betonbau in Ringform mit einem Durchmesser von etwa 80 Meter wird von drei Stützen getragen, in denen sich Aufzüge und Treppen befinden. Eine der vielen Neuerungen war die Nutzung der Energie des nahen Schwarzen Meeres für Heizung, Klimaanlage und Warmwasserversorgung.

9. Wyborg: Stadtbibliothek

Dieser rechteckige weiße Betonblock wurde von 1927 bis 1935 nach dem Projekt des finnischen Architekten Alvar Aalto erbaut, als das unweit von Sankt Petersburg gelegene Wyborg noch zu Finnland gehörte. Im Hauptlesesaal gibt es nicht einmal klassische Fenster –  Licht und Wärme fallen durch trichterförmige Öffnungen im Dach ein. Im Jahr 2013 wurde die Bibliothek nach fast zwanzig Jahren Restaurierung wiedereröffnet und gilt heute als eines der Wahrzeichen der Stadt.

10. Osch (Kirgisien): Historisches und ethnographisches Museum

Ein geradezu ikonisches Gebäude der sowjetischen Moderne entstand 1978 am Hang des Berges Suleiman-Too im heutigen Kirgisien. Ein kleiner Betonbogen mit Panoramaverglasung verbirgt den Eingang zur Höhle. Das Gebäude sollte eigentlich ein Restaurant beherbergen, aber dann wurde es für archäologische Ausstellungen hergegeben. Hinter dem Eingang befindet sich direkt der zweistöckige Höhlenkomplex des Museums.