Wir bekommen alle die Geschichten unserer Großmütter zu hören wenn wir jung sind, manchmal Hunderte von Malen. Der Deutsche Marcel Krüger hörte seiner Oma - Cilly genannt - zahllose Male zu, während sie erzählte, dass sie nur wenige Monate vor der Niederlage Deutschlands von Soldaten der Roten Armee in abgelegene sowjetische Lager entführt worden war. Die Beschreibungen von Menschen, die wie Vieh in Zugwaggons gequetscht wurden, harte sibirische Winter und abgemagerte Gefangene sind ihm ins Gedächtnis gebrannt.
Nachdem Cilly verstorben war, wollte Marcel nicht, dass ihre Geschichten in Vergessenheit gerieten und er beschloss, nach Russland zu reisen und in ihre Fußstapfen zu treten. „Ich habe ihre Geschichten nie niedergeschrieben, als sie noch lebte, aber jetzt, nachdem sie gestorben ist, kann ich sie nicht allein lassen. Es geht um die Bewahrung der Erinnerungen, oder?“ Er wollte auch an die vielen hunderttausend Menschen erinnern, die in sowjetische Arbeitslager deportiert wurden, von denen viele dort starben und von denen viele noch heute unbekannt sind. So schrieb er ein Buch mit dem Titel „Babushka’s Journey: The Dark Road to Stalin’s Wartime Camps“ (zu Deutsch „Babuschkas Reise: Der dunkle Weg in Stalins Kriegslager“), in dem es um seine eigene Reise und Cillys alltägliches Leben im Lager ging.
Die Straße zum roten Russland
Zuerst besuchte Marcel die Stadt Allenstein, in der Cilly geboren wurde. Es war eine ostpreußische Stadt, die einst unter polnischer Herrschaft stand und es war auch eine deutsche Enklave in Polen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt unter dem Namen Olsztyn an Polen zurückgegeben. Infolgedessen sprachen Cilly und ihre Familie Polnisch und fühlten sich immer mehr polnisch als deutsch. Sie arbeiteten deshalb auch nie mit den Nazis zusammen.
Dementsprechend war es äußerst ungerechtfertigt, dass Cillys Mutter zu den Auserwählten gehörte, die im Februar 1945 von der sowjetischen Armee als Kriegsgefangene deportiert wurden. Aber Cilly entschied sich, statt ihrer Mutter zu gehen und sie somit zu retten.
Marcel versuchte Einheimische zu fragen, in der Hoffnung, dass sich jemand an die Ereignisse erinnern würde, aber fast alle wollten nicht reden. Er schaffte es jedoch, einen Zeugen aufzuspüren.
„Die Soldaten haben mir gesagt, dass ich meine Sachen für zwei Tage packen soll... Sie haben unsere Namen aufgerufen, uns in Gruppen von 30 bis 40 Personen zusammengestellt und uns in Viehwaggons gepfercht“, erzählte Frau Moritz. „Wir reisten drei Wochen lang nach Osten, wobei sie einmal am Tag Essen, trockenen Zwieback und Wasser hineinwarfen.“
Marcel machte Halt in Warschau, bevor er nach Moskau weiterreiste. Er wuchs mit einem Hass auf alle sowjetischen Dinge auf, vor allem auf den „schnauzbärtigen Mann“ Josef Stalin, den er nach Adolf Hitler für den bösartigsten Menschen hielt. Also erwartete Marcel, überall in Russland rote Fahnen und Denkmäler für Stalin zu sehen und Leute zu treffen, die ihm noch immer treu ergeben waren.
Er war überrascht, eine moderne Stadt und Russen zu finden, die nachdenklich ihre Vergangenheit reflektierten und die nichts mit den NKWD-Offizieren gemeinsam hatten, die seine Großmutter ergriffen.
Erlebnisse im Zug: Romantik oder Albtraum?
Marcel fuhr mit vielen Zügen, genau wie seine Oma. Jede Minute seiner Reise versuchte er sich vorzustellen, wie Cilly zur Arbeit transportiert wurde - nicht in bequemen Waggons mit Tee und frischer Bettwäsche, sondern in engen Zügen mit nur einem Loch in der Seite für eine Toilette und der allgegenwärtigen Angst vor der Ruhr-Krankheit, da es keine Waschgelegenheiten gab. Von Moskau reiste Marcel nach Jekaterinburg, was ihm sehr gefiel, und dann nach Nischni Tagil, der Stadt, in der Cilly vier schreckliche Jahre verbrachte.
Nachdem er durch das Zugfenster etwas von Russlands Natur gesehen hatte, fand Marcel es schade, dass er keine Besuche von Seen oder malerischen Landschaften arrangiert hatte. Aber dann wurde ihm klar, dass Cilly sich keinen solchen Luxus leisten konnte - hatte sie vielleicht die Natur genossen, während sie in den Wäldern unter den Adleraugen der sowjetischen Wächter Holz hackte?
Das höllische Lager
Vor der Reise versuchte Marcel, eine ähnlichen „Diät“ nachzuahmen, die Cilly und ihre Mitgefangenen fast zwei Jahre lang ertragen mussten. „Meine tägliche Ration war 200 Gramm Roggenbrot und zwei Portionen Kascha, Buchweizenbrei, zum Frühstück und Abendessen.“ Zum Mittagessen hatte Marcel eine wässrige Suppe nur mit ungesüßtem Schwarztee und Wasser zum Trinken. Das war alles. Als Ergebnis verlor er in vier Wochen zehn Kilogramm und litt unter ständigem Schmerz mit einem Magen, der sich wie eine geballte Faust anfühlte - und jede Minute wollte er schlafen, um die Zeit vor seiner nächsten Morgenration zu vertreiben. „In der Tat beginnt ein menschliches Gehirn die Muskeln des Körpers zu verzehren, um zu überleben“, sagte Marcel.
Während ihrer Zeit im Lager wurde Cilly häufig von Wärtern erzählt, dass Gefangene hart arbeiten müssen, um alles wieder aufzubauen, was die Nazis zerstörten. Aber sie verstand nicht, warum sie so wenig zu essen bekamen, wenn sie doch hart arbeiten mussten. „Die sowjetische Obrigkeit hat sie nicht absichtlich verhungern lassen“, schreibt Marcel. „Die Situation war das Ergebnis eines katastrophalen Mangels an Lieferungen aufgrund von vier langen Jahren des verheerenden Krieges, der Tatsache, dass die Rote Armee auf dem Feld zuerst Lieferungen erhielt, und einer unausgewogenen Verteilung der verfügbaren Lieferungen an die jeweiligen Lager.“
Was hat die Reise eigentlich für Marcel bedeutet?
In seiner Erzählung verwebt Marcel die Geschichte seiner Großmutter und seine eigene Reise, sodass er nun versteht, was Cilly durchgemacht hat und welchen Stress ihr Körper und ihr Geist ertragen mussten. Er versteht nun auch, warum seine Oma Schokolade und Milch so gern hatte.
In den letzten zwei Jahren von Cillys Leben lebte Marcel im Ausland und konnte nicht so viel Zeit mit ihr verbringen, wie er es gerne wollte, etwas, das er jetzt bedauert. Aber mit der Reise und dem ihr gewidmeten Buch hat er versucht, ihre Vergangenheit zu nehmen und zu einem Teil seiner selbst zu machen – „zu einer Sache, die man jeden Tag mit sich trägt und manchmal als Erinnerung und Andenken mitnimmt. Das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen, um William Faulkner zu paraphrasieren.“
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