Judentum in Russland: Wie sieht das heutige Leben aus?

Oberrabbiner von Pjatigorsk, Michail Chananaschwili, während der Purim-Feierlichkeiten in einer Synagoge.

Oberrabbiner von Pjatigorsk, Michail Chananaschwili, während der Purim-Feierlichkeiten in einer Synagoge.

Anton Podgaiko/TASS
Jahre des halbillegalen Status haben bei russischen Juden ihre Spuren hinterlassen. Führte ihre Unterdrückung und Isolation jedoch auch dazu, sie in Sowjetzeiten zu vereinen? Und wie stehen ihre Kinder heute zum Judentum?

Jedes Frühjahr reisen junge Rabbiner und Jeschiwa-Studenten in verschiedene russische Städte, die keine Rabbiner haben. Ihre Aufgabe ist es, den Seder zu leiten, ein rituelles Festessen, das Pessach, das Fest der Freiheit, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, feiert. Der Seder findet dabei in der ersten und zweiten Pessachnacht statt.

In der Tat gibt es nicht in jeder Stadt einen Rabbiner – eine Besonderheit, die die russisch-jüdische Gemeinde von den Gemeinden in anderen Ländern unterscheidet.

„In New York gibt es auf der einen Seite eine große orthodox-jüdische Gemeinschaft, auf der anderen Seite gehen auch ein paar Leute in die Synagoge, die keine orthodoxen Juden sind. In Russland ist es genau umgekehrt“, sagt Boruch Gorin, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit für die Föderation der jüdischen Gemeinden Russlands.

Rabbiner Boruch Gorin

„Die meisten Juden in Russland haben sich weit von den judäischen Traditionen entfernt. Dieser Trend ist auch in anderen postkommunistischen Ländern wie Ungarn oder Polen erkennbar. Für Europa ist das jedoch ungewöhnlich, weil eine jüdische Gemeinde dort orthodox sein muss, da sie andernfalls assimiliert und ausstirbt“, erklärt Gorin und fügt hinzu, dass 90 Prozent der Mitglieder der russisch-jüdischen Gemeinden nicht religiös sind und oft in gemischten Ehen leben.

Ebenso gibt es keine „Judenviertel“ in russischen Städten. Stattdessen gibt es in fast jeder Stadt eine kleine jüdische Gemeinde mit etwa 1 000 Einwohnern, oft ohne, dass eine Synagoge vorhanden ist. Der Grund dafür ist die sonderliche Geschichte der Juden in Russland.

Illegaler Matze und die „Holocaust-Religion“

Nach der Revolution hörte die orthodoxe Kirche auf, den Antisemitismus zu fördern. Nichtsdestotrotz existierte in Russland weiterhin ein „wirtschaftlicher“ Antisemitismus. „Das Vorurteil, dass viele Juden der sowjetischen Elite angehörten und die besten Jobs annehmen würden, war weit verbreitet und somit der häufigste Grund für antisemitische Meinungen in der sowjetischen Öffentlichkeit“, berichtet Boruch Gorin.

Rabbiner Jechuda Leib Levin, 1968, Moskau

Viele Menschen versuchten daraufhin, ihre jüdischen Wurzeln zu verbergen, was wiederum die Bildung einer Gemeinschaft verhinderte. In der neuen sowjetischen Ordnung gab es für die jüdische Religion und für Jeschiwas keinen Platz; sie waren verboten. Infolgedessen gab es für sowjetische Juden oftmals keine Möglichkeit, hebräisch zu unterrichten oder zu lernen. Sogar traditionelles jüdisches Matzenbrot, das für die Pessachfeier unentbehrlich ist, wurde zu Sowjetzeiten nur unter der Hand verkauft. Doch genau das schuf unter den jüdischen Sowjetbürgern eine gewisse Verbundenheit.

Juden auf einer Hochzeit während der Sowjetzeit.

„Ich denke, wenn es keinen Antisemitismus in der Sowjetunion gegeben hätte, hätte es auch keine Juden gegeben. Wir würden uns nicht anders fühlen als andere“, sagt Anna Russ, eine Dichterin aus der Stadt Kasan. Boruch Gorin stimmt dem zu: „Der Antisemitismus hat unorthodoxe Juden daran gehindert, sich zur Sowjetzeit zu assimilieren. Die gemeinsamen Probleme im Arbeits- und Bildungsbereich schafften ein Gefühl der Verbundenheit. Ebenso fühlten sich viele Menschen mit denen, die in den 1930er und 1940er Jahren aufgrund ihrer so genannten „Holocaust-Religion“ umkamen, solidarisch.

„Meine Ururgroßmutter ist während des Krieges in Kiew umgekommen und nicht in Babij Jar [einer Schlucht in Kiew, in der während des Zweiten Weltkrieges Massaker deutscher Truppen stattfanden]. Stattdessen waren es ihre ‚netten‘ Nachbarn, die sie ins Treppenhaus stießen“, sagte Irina, eine jüdische Frau mittleren Alters aus Moskau. „Wie kann man vergessen, dass man Jude ist, wenn man so etwas weiß?“

Bleiben oder gehen?

„Der Antisemitismus hat in einigen europäischen Ländern wieder zugenommen“, sagt Gorin. „Doch Russland ist für Juden ein überraschend sicherer Ort geworden. In großen Städten assimilieren sich Jugendliche, weil sie es wollen, und nicht, weil sie dazu gezwungen sind. Sie fühlen sich schlicht und ergreifend nicht jüdisch, bis sie entweder auf positive (beispielsweise durch Reisen nach Israel) oder auf negative Weise daran erinnert werden.“

Mitglieder der judischen Gesellschaft in Weliki Nowgorod

So wanderten in den 1970er Jahren mehr als 100 000 sowjetische Juden nach Israel aus. Nach 1989 waren es sogar über eine Million. Zur gleichen Zeit begannen Organisationen wie die HaSochnut Ayeudit (Jewish Agency for Israel – zu Deutsch „Jüdische Agentur für Israel“) oder Hillel International die jüdische Kultur in Russland zu fördern.

„Das Judentum kam Anfang der neunziger Jahre zusammen mit HaSchnut und Hillel in unser Leben“, erinnert sich Russ. „Habad hat uns Rabbiner geschickt und in einem HaSochnut-Ferienlager habe ich mit 13 Jahren zum ersten Mal etwas über den Holocaust erfahren.“

Gorin sagt, dass in den 1990er Jahren die meisten Juden unter 40 Jahren beschlossen, in Russland zu bleiben und vor allem ihre älteren Verwandten emigriert sind. „Das war eine Zeit, die auch große Chancen bot; junge Menschen haben das verstanden und sind geblieben. Der Kern der heutigen jüdischen Gemeinschaft besteht aus Menschen, die Jugendliche waren, als die Sowjetunion zusammenbrach. Man kann sagen, dass sie ihre Möglichkeiten voll ausgeschöpft haben.“

Choral-Synagoge in Moskau

„Die Propagierung der Emigration war jedoch nicht das Hauptziel von Hillel und HaSochnut Ayeudit“, sagt Irina. „Das wichtigste Ziel ist es, unser jüdisches Leben hier aufrechtzuerhalten. Auch wenn eine Person nicht jeden Tag in die Synagoge geht, gibt es zwischen ihr und ihrer jüdischen Vergangenheit eine Verbindung.“

Anna erzählt, dass sie nicht zuletzt wegen der Sprache Angst vor dem Auswandern habe: „Ich dachte, ich würde durch eine fremde Kultur alles verlieren. An das Naale-Programm habe ich nicht einmal gedacht. Und nun überzeuge ich meine Tochter, es doch zu versuchen. Ich glaube nicht, dass man ein Jude sein kann, wenn man das Judentum nicht mit dem größten Respekt behandelt.“

Jüdische Geschichte in Russland

Im späten Mittelalter litt die jüdische Bevölkerung Europas zunehmend unter der Verfolgung lokaler einschließlich russischer Fürsten. Seit der Herrschaft Kasimirs des Großen in den Jahren 1310 bis  1370 siedelten sich die Juden hauptsächlich in Polen an. Nach Russland kamen sie erst während der Herrschaft Katharina der Großen, als Teile Polens, das heißt Länder, die jetzt zu Belarus, der Ukraine und Litauen gehören, in das Russische Reich eingegliedert wurden.

Im Russischen Reich mussten Juden meist doppelte Steuern zahlen und besaßen lediglich einschränkte Bürgerrechte. Dennoch waren es nicht vorwiegend die Gesetze, die sie daran hinderten, sich zu assimilieren und sich in das Gemeinschaftsleben einzubringen, sondern die russisch-orthodoxe Kirche, dessen Antisemitismus sie fürchteten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts arbeiteten über fünf Millionen Juden vorwiegend als Händler oder Handwerker in Russland. Aufgrund des wachsenden Antisemitismus begannen sie jedoch zunehmend, Russland zu verlassen und vor allem in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Erst die Revolution von 1917 führte zur Befreiung der ethnischen Juden und ermöglichte es ihnen, Mitglieder der Provisorischen und der späteren sowjetischen Regierung zu werden.

>>> Warum schuf Stalin einen Jüdischen Staat im Fernen Osten?

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