Teriberka bei Murmansk: Touristenort wider Willen (FOTOS)

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WIKTORIA RJABIKOWA
Nach der Veröffentlichung des für den Filmpreis Oscar nominierten Streifens Leviathan wurde das aussterbende nordrussische Dorf Teriberka zum Mekka für Touristen und Arthouse-Fotografen. Die Bewohner sind jedoch unglücklich mit der Popularität. Unser Korrespondent ist hingereist, um rauszufinden, warum.

Wachstum dank Leviathan

Das 2014 in die Kinos gekommene Filmdrama Leviathan des russischen Regisseurs Andrei Swjaginzew war einer der international erfolgreichsten russischen Filme der 2010er-Jahre. Er gewann einen Golden Globe, eine Goldene Palme und war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. In Russland selbst löste der Film zudem eine hitzige Debatte aus.

Die Handlung dreht sich um Nikolai, einen durchschnittlichen Nordrussen mit Alkoholproblem. Als der Staat plant, sein Haus abzureißen, gerät der hilflose Nikolai in große Schwierigkeiten. Die dramatische Handlung wird unterstrichen durch düstere Bilder der tristen nordrussischen Landschaft.

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Mit dem Erfolg des Filmes wurde auch der Drehort Teriberka bekannt. Touristen kommen seitdem her, um die Handlungsorte des Filmes selber zu sehen und zu fotografieren.

Die durch den Film verursachte Bekanntheit des Dorfes brachte vor eineinhalb Jahren auch Jewgeni und seine Freundin Tatjana aus der nahegelegenen Großstadt Murmansk nach Teriberka. Sie kauften etwas Land und ein verlassenes Haus, renovierten es und eröffneten ein Hostel darin. Die Nacht kostet 1 300 Rubel (18 Euro). Nebenan gibt es auch noch ein etwas höherklassiges Hotel, in dem die Übernachtung 6 500 Rubel (89 Euro) kostet.

Während im Frühjahr und im Sommer vor allem russische Touristen kommen, um Angeln zu gehen, örtliche Festivals zu besuchen oder um die Drehorte zu besuchen, reisen im Winter vor allem chinesische Besucher an. Diese haben oft noch nie von Leviathan gehört und träumen stattdessen davon, die Nordlichter zu sehen.

Exkursion á la Teriberka

Eine weitere Attraktion für die chinesischen Touristen ist es, in einem Schneemobil gefahren zu werden. Jewgeni ist davon nicht begeistert, denn das Schneemobil verbraucht einfach zu viel Sprit. Lieber nimmt er seinen Minibus, einen UAZ-452, auch Buchanka (Brotlaib) genannt. Heute ist eine chinesische Touristin an Bord. Es soll jedoch alles schief gehen. Ganze zehn Meter fährt Jewgeni, dann bleibt der Minibus im Schnee stecken. „Das war’s, der Ausflug ist vorbei!“ sagt er und versucht, sein Fahrzeug wieder aus dem Schnee zu befreien.

Tatjana ist indessen mit Kochen beschäftigt. Es riecht nach frittierten Garnelen, Krabben und anderen Spezialitäten aus der nahegelegenen Barentssee.

Tourismus – eine Form der Sklaverei?

Am Ufer, nicht weit von dem Hostel entfernt, ist ein kleines, seltsam aussehendes Haus. „Seit Leviathan weht ein neuer Wind in Teriberka – der Tourismus. Sie sagen, ohne ihn könnten wir nicht überleben. Aber wofür brauchen wir die Touristen eigentlich?” sagt Witalij, der Besitzer des Hauses.

Der 57-jährige Fischer hat sein ganzes Leben in Teriberka verbracht. Er sagt, Tourismus sei eine neue Form der Sklaverei. „Es ist doch dasselbe, als wäre man ein Diener. Man dient anderen Menschen“, behauptet er.  

Manchmal kann aber auch Witalij den finanziellen Vorteilen des Tourismus nicht wiederstehen und nimmt Angler, Fotografen und sogar Passagiere mit auf seine Trips entlang der Küste. Er hat drei Dinge, die er am meisten liebt: Fischen, Haustiere und Frauen. Mit seiner sechsten Ehefrau, seinen fünf Katzen und dem Hund ist er glücklich. Er sagt, es sei schwierig, nur mit der Fischerei über die Runden zu kommen.

Von Gesetzes wegen darf Witalij nur Fische einer bestimmten Größe fangen: Schellfische ab 40 Zentimetern und Dorsche ab 42 Zentimetern. Diese Tiere halten sich jedoch vor allem fernab der Küste auf, wo Witalij mit seinem Boot nicht hindarf. Dafür bräuchte er eine Spezialerlaubnis, die normalerweise nur großen Schiffen erteilt wird.

Auf gewisse Weise erinnert Witalijs Leben an die Handlung von Leviathan. Er sagt, die örtlichen Behörden wollten, dass er in eine neue Wohnung im Nachbarort umzieht und sein altes Grundstück dem Staat überlässt. Das Haus sei nicht mehr zum Wohnen geeignet, sagen die Behörden. Eigentlich wollen sie das Land jedoch nutzen, um dort neue Hotels und Hostels zu bauen.

„Ich will aber nicht umziehen. Ich mag es hier“, erzählt Witalij und lehnt sich an eine im sowjetischen Stil tapezierte Wand, an der Kalender mit Nacktbildern, aber auch eine Ikone und die russische Flagge hängen. Wenn der Staat ihm im Gegenzug seinen Job als Fischer erleichtern würde, hätte er überhaupt nichts gegen die Touristen, meint er. 

Wie im wahren Leben

“Um ehrlich zu sein sind wir nicht besonders glücklich mit dem ganzen Leviathan-Geschäft. Der Film zeigte unsere schöne Landschaft, aber der Plot war idiotisch. Zumindest muss man jedoch Menschen aus anderen Teilen Russlands nicht mehr erklären, wo Teriberka liegt“, erzählt Olga Nikolajewa, Bibliothekarin und Leiterin des örtlichen Kulturzentrums.

Die Bi­b­lio­the­ka­rin, eine schlanke, ältere Dame, blättert durch ein altes Fotoalbum und berichtet mir Stolz von der Vergangenheit Teriberkas. Stolz zeigt sie mir ein Bild aus den frühen 70ern. Einige junger Männer versuchen darauf, in den Mund eines zuvor gefangenen Wales zu klettern.

„Damals hatte Teriberka fast 5000 Einwohner. Die Siedlung lebte fast ausschließlich von der Fischerei“, berichtet Nikolajewa. „Es gab eine Fischfabrik, die aber 2015 aus Mangel an Profit geschlossen wurde. Dadurch schloss auch die Schule, die Schüler und Lehrer sind jetzt im Nachbarort.“

Heute hat Teriberka nur noch 617 Einwohner und eine ganze Sammlung an für die Region charakteristischen verlassenen Häusern, die auch als Kunstobjekte oder als Drehort für einen Horrorfilm durchgehen könnten.

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