Auf den ersten Blick wirkt Alexander wie ein durchschnittlicher junger Familienvater mit einem Job in der Kreativbranche. In der kleinen Küche seiner Wohnung in einem typisch sowjetischen Plattenbau aus den 1960ern, Chruschtschowka genannt, sitzt er vor seinem Laptop und guckt auf ein leeres Word-Dokument. Seine Frau ist gerade auf dem Weg zur Arbeit, weswegen er auch den kleinen Mischa, seinen Sohn, betreut.
Einen Moment später poppt ein Post seiner VKontakte-Gemeinschaft auf: „Wie bringe ich mich selbst dazu, ein Skript zu schreiben? Ich versuche es seit Tagen, aber es passiert einfach nichts.“
Tatsächlich ist der 26-jährige Priester der russisch-orthodoxen Kirche und versucht gerade ein Skript für sein neues YouTube-Video zu schreiben. Das Thema grenzt an einen Tabubruch: “Erhört Gott meine Gebete eher, wenn ich Kerzen in der Kirche kaufe?“
Alexander veröffentlichte sein erstes Video vor drei Jahren. Dazu angeregt wurde er von seinem Kollegen Alexander Mitrofanow, der zu diesem Zeitpunkt bereits 5.000 Abonnenten angesammelt hatte.
„Damals gab es kaum Priester im russischsprachigen YouTube. Er war einer der ersten“, erinnert sich Kuchta. Zu diesem Zeitpunkt entdeckte auch die Führung der russisch-orthodoxen Kirche das Internet als Ort, um den Glauben zu verbreiten. Junge, technikaffine Priester wurden ermutigt, sich darum zu kümmern, und die Kirche veranstaltete einen Wettbewerb für bloggende Priester. Alexander wurde Zweiter.
Er entschied sich weiterzumachen und suchte auf Kanälen wie dem Mitrofanows nach Inspirationen. Dann kaufte er für das Geld, das er zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte (die russisch-orthodoxe Kirche erlaubt die Hochzeit vor der Priesterweihe), eine uralte Kamera.
Seitdem redet er in klarer, unverblümter Sprache über Themen wie Sex vor der Ehe, aber auch über Tattoos und Mangas. Dabei versucht er, jungen Menschen die Werte der Kirche nahezubringen. Er will sie überzeugen, dass das Christentum nichts Altmodisches ist, sondern Antworten auf die großen Fragen des modernen Lebens bietet.
Alexander predigt normalerweise in einer kleinen, ländlichen Gemeinde. Den genauen Ort möchte er nicht bekanntgeben. Seine reale Zuhörerschaft besteht hauptsächlich aus älteren Menschen, denen das Internet fremd ist. Daher musste Alexander zunächst etwas experimentieren, eher er den richtigen Tonfall für YouTube fand.
Am Anfang waren es nur wenige Zuschauer. Doch dann begann der Kanal zu wachsen. Heute hat Alexander über 25.000 Abonnenten. Mitrofanows Zuschauerschaft wuchs deutlich langsamer von 5 000 auf 8 000.
Sein erfolgreichstes Video hatte ganze 75.000 Zuschauer. Es ist eine Antwort auf den Kleriker Wsewolod Tschaplin, der gefordert hatte, das Filmdrama „Mathilde – Liebe ändert alles“ zu verbieten. In dem Film des Regisseurs Alexei Utschitel geht es um eine Affäre zwischen Zar Nikolaus II., der von der russisch-orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt wird, und der Ballerina Matilda Kschessinskaja.
Alexander fordert Tschaplin in dem Video auf, „seine Meinung nicht als den Willen Gottes zu verkaufen.“ „Inwiefern bedroht Utschitels Film Russland? "Mathilde" ruft nicht zur Zerstörung des russischen Staates auf. Wir haben so viele größere Probleme: Abtreibung, Korruption, schlechte Straßen, Drogen, Alkoholmissbrauch, und so weiter“, sagt Alexander. Es ist ihm wichtig, zu zeigen, dass Leute wie Tschaplin nicht die Kirche als Ganzes repräsentieren.
Natürlich kommt auch Alexander nicht ohne „Hater“ aus. Die angenehmsten sind dabei junge Atheisten, oft im Schulalter, die behaupten, YouTube wäre nichts für Priester. Alexander antwortet den Kommentatoren dann. Manchmal bekommt er sogar eine inspirierende Antwort.
Schlimmer sind die Hasskommentatoren vom anderen Ende des religiösen Spektrums. Radikale Gläubige drohten schon, ihn zu finden und zu verprügeln. „Sie mögen mich nicht, weil ich die Dinge ausspreche wie sie sind. Meine Sprache ist klar und zeitgemäß, anders als es in der Kirche normalerweise der Fall ist“, erklärt Alexander.
Anders als populärere Blogger hat Alexander keinen Manager und kein Team. Er könnte es nicht einmal bezahlen. Seine Ausrüstung, ein Mikrofon und inzwischen auch eine moderne Kamera war ein Geschenk eines Abonnenten, sein Tablet benutzt er als Teleprompter. Traditionell dagegen ist seine Kleidung, er trägt eine Soutane und eine Kette mit Kreuz.
Während des Videos gibt es bei Alexander keine Werbung. Er bekommt zwar viele Angebote, Dinge zu vermarkten, darunter orthodoxe Publikationen und die Dienste von Seelsorgern. Sogar ein Werbedeal für chinesische Kopfhörer wurde ihm schon angeboten.
Sein Ruf ist ihm aber wichtiger als Geld, weswegen er weiterhin für umgerechnet etwa 350 Euro in der Kirche arbeitet. Die Videos macht er in seiner Freizeit.
Nachdem ein Video online gegangen ist, teilt Alexander es in orthodoxen Communities. Ein Teil der Arbeit besteht auch darin, auf Fragen von Usern zu antworten.
Erlaubt die Kirche Yoga? Ist Rauchen eine Sünde und wenn ja, wie hört man damit auf? Ist es okay, während dem Sex an Gott zu denken? Solche Fragen sind für Alexander Alltag.
„Man will über Gott reden, aber gleichzeitig muss man den Leuten auch erklären, dass Beten ihnen nicht bei ihren Rückenschmerzen hilft. Sie müssen zu einem Arzt gehen. Man darf sich nicht zu wichtig nehmen. Ich bin weder ein Arzt noch ein Psychologe noch ein Psychiater. Meine Aufgabe ist es, Leute zu Jesus Christus zu führen“, sagt er.
Momentan denkt Alexander darüber nach, ein Video über HIV und AIDS zu machen, um mit den von „einigen Klerikern“ verbreiteten Mythen aufzuräumen, diese Krankheiten würden gar nicht existieren. Ihm zufolge erkennt die russisch-orthodoxe Kirche die Krankheiten als solche an und unterstützt ihre Behandlung.
Ansonsten hat der bloggende Priester aber auch ganz irdische Ziele. Er möchte zum Beispiel wieder mehr Zeit mit seiner Frau und seinem Sohn verbringen. Und er träumt davon 100 000 oder sogar noch mehr Abonnenten zu erreichen.
„Wir müssen junge Priester dazu bringen, YouTube-Blogs zu machen. Einige haben das Potenzial, eine Million Abonnenten und mehr zu erreichen“, meint er.
Alexander ist sich sicher, nicht zu Letzteren zu gehören. Seine Aufgabe sei es, jüngeren, noch talentierteren Nachfolgern einen Weg aufzuzeigen.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!