Warum dulden Russen Belästigungen?

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Kann man in Russland als Mann oder Frau alleine ohne Sorgen auf der Straße gehen, mit der U-Bahn fahren oder in einer Bar sitzen? Kann man erwarten, dass Kollegen und Vorgesetzten der Ruf wichtiger als schmutzige Witze ist? Die meisten Russen haben das Wort Harassment (das englische Wort für Belästigung) erst vor kurzem zum ersten Mal gehört, aber sie leben schon seit langem Seite an Seite mit diesem Phänomen. Dafür gibt es viele Gründe.

„Schlaf mit mir oder ich gebe dir kein Interview“ – diesen Satz, so Darja Komarowa (rus) von Radio Swoboda, habe ihr der berühmte russische Kinoregisseur und Parlamentsabgeordnete Stanislaw Goworuchin gesagt. Das war im März 2018. Die Enthüllung Komarowas hatte keine Wirkung. Man rief den Regisseur an. „Das Thema Weinstein läuft bei uns nicht. Das bringt nichts“, soll er gesagt und aufgelegt haben. Er sollte Recht behalten. Drei Monate später starb der 83-jährige Goworuchin an einem langen Leiden, aber der Sexskandal war schnell vergessen und niemand erinnert sich mehr daran.

„Du bist die Einzige auf dieser Party, die ich anmachen kann, ohne etwas befürchten zu müssen.“ Dies äußerte Iwan Kolpakow, der Ex-Chefredakteur der liberalen Internetzeitung Meduza, im gleichen Jahr, als er auf einer Firmenfeier zu viel getrunken und die Frau eines Kollegen belästigt hatte. Wenige Monate zuvor hatte Meduza als Zeichen des Protests die Staatsduma, das Unterhaus des Parlaments, und den Abgeordneten Leonid Sluzkij boykottiert, der mehrere Journalistinnen belästigt haben soll. Kolpakow ging als Sieger aus dem Streit hervor: Nachdem der Chefredakteur vorübergehend suspendiert worden war, entschied der Vorstand der Zeitung, dass die Belästigung (die Kolpakow im Übrigen nicht bestritt) kein Grund sei, ihn zu feuern. Das Parlament hatten dem Vorwurf der Journalistinnen gar nicht erst Glauben geschenkt.

Es gibt noch Dutzende ähnlicher Geschichten über Belästigung und Missbrauchs und Tausende von Erzählungen, die von Russen während des #metoo-Flashmobs in den sozialen Netzwerken gepostet wurden – über Erniedrigung auf Arbeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Straße, im Aufzug und an anderen Orten. Die Menschen teilten sich schnell in zwei Lager auf – die Einen erkannten darin ein ernstes Problem, die anderen halten das für einen nicht enden wollenden feministischen Scherz.

Weil es peinlich ist

Es geschah in der Moskauer Metro, mitten im Berufsverkehr. Jekaterina Andrejewa, damals Studentin an der Lomonossow-Universität, fühlte, wie ein Mann hinter ihr ihre Beine und ihr Gesäß streichelte. Sie wurde nervös. Ein anderer, viel älterer Mann bemerkte es. Aber er lächelte ihr einfach ins Gesicht und sagte laut: „Der macht dich wohl an?“

„Danach fingen die anderen Fahrgäste an mich zu mustern“, erzählt Jekaterina Russia Beyond. Niemand empörte sich. Inzwischen ist sie 32 Jahre alt, in den letzten fünfzehn Jahren wurde sie im morgendlichen oder abendlichen Berufsverkehr noch mehrmals von einem Mann angegrabscht. „Ich war zu schüchtern, um etwas zu meiner Verteidigung zu sagen“. Nach Möglichkeit meidet sie immer noch die öffentlichen Verkehrsmittel.

Scham ist eine der häufigsten Emotionen, die Opfer von Belästigungen verspüren. Er lässt die Opfer schweigen und führt zu Komplexen. Das Herz auszuschütten bringt manchmal Erleichterung, aber auf Unterstützung zu hoffen, ist wie Roulettespielen – vielleicht hat man Glück, wahrscheinlich aber nicht.

Bei ihrem ersten Job nahm sich Andrejewas Chef sehr viel heraus. Wie sie sagt, „verbal“. Zum Beispiel äußerte er Kommentare zu ihren „großen Brüsten und der schmalen Taille“ und stellte schmutzige Fragen wie jene, ob „während des Urlaubs denn jemand die ,Blumeʻ gepflückt“ habe oder nicht. All dies geschah in Anwesenheit der Kollegen und galt als Scherz – bei niemandem löste dies Empörung aus. Andrejewa schwieg wieder.

Im vergangenen Jahr wurde Harassment zu einem der russischen Worte des Jahres (rus) gewählt. Dass ist in erster Linie wahrscheinlich #metoo und „Weinsteingate“ zu verdanken, aber viele Menschen haben das Wort wirklich zum ersten Mal gehört.

So ein Verbrechen gibt es gar nicht

„Gibt es in Russland so etwas wie Belästigung? Auf jeden Fall, ja. Ist es ein nationales Problem? Nein“, sagt der Moskauer Anwalt Roman Stepowoj. In seiner sechzehnjährigen Berufspraxis, so erklärt er, könne er sich nicht eines einzigen Mandats im Zusammenhang mit Harassment „rühmen“.

Darüber hinaus kennt das russische Recht den Strafbestand der Belästigung überhaupt nicht. Am ehesten trifft der Paragraf  Nötigung zu einer sexuellen Handlung zu. Nichtsexuelle Belästigung wird nach wie vor kaum als Verbrechen wahrgenommen. Missbrauch ebenso nicht. „Missbrauch wird als psychologische Kategorie interpretiert. Als Rechtsbegriff ist er dem russischen Rechtssystem unbekannt“, sagt Stepowoj.

Gleichzeitig erklären Gewerkschaften und Wissenschaftler der Hochschule für Wirtschaft, dass bis zu 30 Prozent der Bürger heute geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz auf die eine oder andere Weise erwähnen. Einschließlich Männer. „Belästigungen männlicher Mitarbeiter durch weibliche Vorgesetzte kommen nicht seltener vor. Wenn nicht sogar häufiger. Weil die Männer in unserer recht heuchlerischen Gesellschaft sich einfach schämen, zu sagen, dass sie sexuell belästigt wurden“, erklärt der Journalist Roman Satscharow.

Die tatsächliche Zahl liegt wahrscheinlich über 30 % (rus) – der Rest, so glauben die Forscher, schweigt aus Angst oder weil er nicht glaubt, ernst genommen zu werden.

Aber mit dem gleichen Erfolg kann man auch in Russland leben und nie belästigt werden. Oder man bemerkt einfach nicht, dass es sich dabei um Harassment handelt.

„Es ist für mich immer ein eigenartiges Gefühl, Nachrichten über Belästigungen am Arbeitsplatz zu lesen. In meinen 42 Jahren habe ich noch nie mit sexueller Belästigung oder Verfolgung zu tun gehabt“, erklärt Natalia Krasilnikowa gegenüber Russia Beyond. Seit drei Jahren arbeitet sie als PR-Managerin für die Firma Mamba, die eine Online-Dating-App entwickelt hat. In dem IT-Unternehmen sind 90 % der Mitarbeiter Männer. Als sie fünfzehn Jahre alt war, wurde sie in der U-Bahn einmal von einem „Opa“ an das Gesäß gegrabscht, was bei ihr Verwirrung und Erheiterung auslöste. Sie erzählt, wie sie viele Male allein im Kaukasus herumgereist ist. Dort bekennt die Bevölkerung sich traditionell zum Islam. „Im Kaukasus ist Feminismus absolut kein Thema. Die Männer dort sind temperamentvoll. Aber auch dort hatte ich keine Probleme.“

Jetzt aber, auf Arbeit, müsse sie regelmäßig auf der Hut sein, einschließlich Online-Belästigungen – E-Mails mit empörenden Witzen oder Dick Pics [Fotos des männlichen Geschlechtsorgans]. Um das Problem zu untersuchen, wurden mithilfe der App anonymisiert 10.000 Fotos aus den ersten drei Messages der männlichen Nutzer hochgeladen (es wurde davon ausgegangen, dass solche Bilder zulässig sind, wenn ein Paar bereits längere Zeit korrespondiert). Der Anteil von Pornofotos lag dort nur bei 0,6%. „Harassment scheint ein sehr emotionales Problem zu sein. Einer Frau bleibt von hundert gewöhnlichen Nachrichten mit „Hallo, wie geht’s?“ nur an das Foto mit dem ,Stolz des Mannesʻ in Erinnerung“, äußerte Krasilnikowa.  

„Das ist paradox“, sagt Stepowoj. „Warum sehen einige Menschen eine Zunahme der Belästigungen im Land und andere bemerken sie nicht einmal?“

„Wer stärker ist, hat Recht“

Die berühmte Schriftstellerin und TV-Moderatorin Tatjana Tolstaja erinnert sich (rus) auf ihrer Facebook-Seite an die Geschichte ihres amerikanischen Bekannten, dem Belästigung vorgeworfen wurde. Der Vorfall – ein Kuss auf einer Firmenfeier – ereignete sich vor zehn Jahren. Die Betroffene erzählte erst jetzt darüber, im Rahmen des #metoo-Flashmobs. „Sie behauptet jetzt, dass sie sich [all die Jahre] ,unbequemʻ gefühlt habe. Weil es die ganze Welt ihr bequem machen soll“, schrieb Tolstaja, ohne ihre Irritationen zu verbergen. Der amerikanische Bekannte verlor dadurch seinen Job.

„Ich weiß nicht, woher diese Wut kommt. Es hat sich nicht unter Kontrolle gehabt, okay. Aber wenn es ihr nicht gefiel, hätte sie ihm eine runterhauen können und die Sache wäre vergessen gewesen“, kommentiert ein anderer Moskauer Journalist, Alexej Torgaschow, die Geschichte mit dem Chefredakteur von Meduza.   

Ja, zwischen einem Flirt und einer Belästigung liegt ein schmaler Grat, der in Russland und anderswo in der Welt noch nicht vollständig verstanden wird. Dies geht aus dem Bericht (rus) der Stiftung Peterburgskaja politika hervor. „Ein Mann darf schon nicht mehr mit einer Frau flirten oder ihr die Tür aufhalten – das ist doch Schwachsinn!“ ist eine verbreitete Meinung.

So können beispielsweise laut einer Studie (eng) von Sky Data 51 % der Briten diese Grenze nicht bestimmen. Das Besondere an Russland ist, dass das Thema Belästigung immer noch mit einem ironischen Unterton diskutiert und als etwas Selbstverständliches angesehen wird,  das in der menschlichen Natur verwurzeltes ist und zum Vorschein kommt, wenn das Opfer ein solches Verhalten provoziert. Das ist die übliche Täter-Opfer-Umkehr.

„Unser Gesellschaftsvertrag basierte ursprünglich auf patriarchalischen Postulaten und einer starren Hierarchie, den Dichotomien stark – schwach, reich – arm und Mann – Frau. Wenn jemand ,stärkerʻ ist und ,das Recht hatʻ, weiß er die Gesellschaft auf seiner Seite“, schreibt (rus) Walerija Kasamara, Leiterin des Labors für politische Forschung der Nationalen Forschungsuniversität an der Hochschule für Wirtschaft. Belästigung steht in direktem Zusammenhang mit einem Gefühl von Macht. Und Macht reicht manchmal aus, um sich selbst zu sagen: „Ich habe das Recht“.

Im vergangenen Jahr lehnte die Staatsduma den Gesetzentwurf zur Gleichstellung der Geschlechter ab. Es wurde bereits 2003 eingebracht und 15 Jahre erörtert. Die Abgeordnete Oxana Puschkina versprach, den Begriff der Belästigung in die Gesetzgebung einzubringen – aber das ist bisher nicht geschehen.

>>> Warum sich Russland endlich zum Feminismus bekennen sollte

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