Vor einiger Zeit beschwerte sich ein britischer Freund, der ebenfalls in Sankt Petersburg lebt, bei mir über den angeblichen Rassismus in Russland. Als ich ihn fragte, was passiert sei, sagte er mir, sein Date hätte ihm gesagt: „Paris ist inzwischen hässlich wegen der vielen Einwanderer.“
Sechs Monate später sah ich mir eine Rede von US-Präsident Trump an. Er sagte: „Paris ist nicht mehr Paris.” Mein britischer Freund sah mich nur an, als wollte er sagen: „Siehst du?“
Trump und das Date meinten dasselbe. Nur Trump versuchte dabei politisch korrekt zu sein. Das Date meines Freundes war da direkter, auch wenn es das meiner Meinung nach nicht besser macht.
Die Erlebnisse meines Freundes brachten mich dazu, herausfinden zu wollen, ob es in Russland so etwas wie politische Korrektheit gäbe. Ich hakte nach und fragte russische Bekannte. Diese verstanden anfangs überhaupt nicht, was ich meinte und fragten Dinge wie: „Meinst du, wenn Politiker lügen?“ oder „Ist das irgendwas mit Korruption?“
Im Oxford Dictionary wird politische Korrektheit definiert als „der, nach Ansicht einiger Menschen übertriebene, Versuch, Aussagen, durch die sich Minderheiten oder sozial benachteiligte Gruppen diskriminiert fühlen können, zu vermeiden.“
Es sagt einiges aus, dass der Halbsatz „nach Ansicht einiger Menschen übertrieben“ es bis in die Wörterbuch-Definition geschafft hat.
Warum gibt es also politische Korrektheit? Ich traf mich mit einer Freundin, die einen Buchladen im Zentrum von Sankt Petersburg besitzt. Als ich sie nach ihrer Meinung zu „politischer Korrektheit“ fragte, sagte sie: „Ich finde es wichtig, dass es sowas gibt, vor allem um Frauenfeindlichkeit und Homophobie zu bekämpfen. Warum haben wir auf der einen Seite Gesetze, die religiöse Organisationen schützen, erlauben es aber auf der anderen Seite, jemanden offen für seine Homosexualität oder auch für sein Übergewicht zu verurteilen? Ich glaube nicht, dass man so miteinander umgehen sollte.“
„Glaubst du, dass viele Russen so denken?“ fragte ich.
„Nein, die meisten sehen das anders. Sie interessieren sich nicht dafür, oder glauben, dass wir sowas nicht brauchen.“
Letzteres bestätigte sich auch im Gespräch mit anderen Russen. Sie fanden politische Korrektheit oft einfach unnötig.
Eine Frau namens Z. sagte mir: „Ich glaube, dass viele Menschen hier gar nicht darauf achten. Wenn man sie darauf aufmerksam macht, antworten sie entweder mit ‚Tut mir leid, war nicht so gemeint‘ oder fragen sich, warum man sich überhaupt dafür interessiert.“
Ich fragte sie: „Was, wenn sich jemand wirklich angegriffen fühlt?“
„Russen würden dann versuchen, das Thema zu wechseln. Es sei denn, es ist ein betrunkener Mann mittleren Alters. Dann hat man ein Problem.“
Viele Russen, mit denen ich gesprochen habe, sehen politische Korrektheit auch als Redeverbot. Für sie ist es eher eine Einschränkung als ein Schutz von Minderheitsrechten. C. aus Moskau erzählte mir: „Es gibt zwei verschiedene Sichtweisen. Viele Russen glauben, die "westliche" politische Korrektheit ist zu weich und zu steril.“
„Und diejenigen, die nicht in diese Kategorie fallen?“
„Viele glauben auch, dass die westlichen Staaten auf diese Weise Konflikte vermeiden. Das helfe ihnen auch wirtschaftlich: Schließlich will niemand mit jemandem arbeiten, der taktlos ist. Entscheidend ist aber doch, dass irgendjemand Kompromisse eingehen muss, wenn man etwas erreichen will. Harte Worte tun niemandem weh, also kann man sie ab und an auch mal erlauben. Andererseits funktioniert es im Westen auch mit politischer Korrektheit. Ich glaube, es hängt auch viel damit zusammen, mit wem man gerade redet.“
Doch auch wenn viele Russen den Sinn hinter politischer Korrektheit nicht sehen und das Thema generell weniger emotional betrachten – beleidigen wollen sie niemanden. Gleichzeitig wollen sie es mit der Rücksichtnahme aber auch nicht übertreiben.
Politische Korrektheit kann hilfreich sein, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, mit denen man sonst nicht viel zu tun hätte. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob das Thema nicht zunehmend falsch interpretiert wird.
Es scheint als wäre politische Korrektheit eigentlich etwas Nützliches, das lediglich falsch angewandt wird. Wie ein Bleistift, den man nutzen kann, um ganze Generationen mithilfe von Wörtern zu inspirieren, aber mit dem man bloß unhöflichen Menschen ins Gesicht sticht.
„Meine Meinung zu politischer Korrektheit? Ich bin ein russischer Bürger und ich glaube nicht, dass wir es brauchen. Ich habe hier nie Probleme mit Rassismus oder Diskriminierung erlebt. Die meisten Russen scheinen mir „von Geburt an“ tolerant zu sein. Abgesehen davon sind wir einfach relativ direkt. Wir sagen die Dinge, wie sie sind. Einige Probleme könnten jedoch auch tatsächlich mit politischer Korrektheit oder Unkorrektheit zusammenhängen.“ – Clemente
„Das N-Wort ist in Russland nicht negativ konnotiert. Nur englischsprechende Russen, die an die amerikanischen und westeuropäischen Gewohnheiten angepasst sind, vermeiden es.“ – Igor, Sankt Petersburg
„Ich weiß nicht, wie Russen westliche politische Korrektheit wahrnehmen. Ich glaube, wir verstehen es einfach nicht. Was wird besser, wenn negativ aufgefasste Worte vermieden werden, der Hass aber bleibt?“ – Daria
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