„Früher dachte ich, dass eine nicht barrierefreie Umgebung unüberwindbare Felsen sei. Inzwischen weiß ich, dass nicht barrierefrei eine einfache Bordsteinkante bedeutet.” Das sind die ersten Sätze in einem Beitrag auf dem YouTube-Kanal „Slowo Pazana“ („Das Wort eines Mannes“) über eine Gruppe junger Rollstuhlfahrer aus ganz Russland, die einen Kaukasustrip unternehmen. Dann tritt ein schmaler junger Mann in einem schwarzen Trainingsanzug mit einer Bauchtausche in Tarnmuster vor die Kamera und berichtet über die Menschen im Video und worum es ihm geht.
Rund zwanzig Videos hat er bereits veröffentlicht. Darin verschenken Freiwillige Brot an Bedürftige, kaufen auf dem Markt alten Frauen die Ware ab oder bauen ein Klavier auf der Straße auf.
Das Gesicht des jungen Mannes, der hinter diesen Aktionen steckt, bleibt verdeckt. „Russia Beyond” hat ihn ausfindig gemacht und ihn nach seiner Motivation gefragt.
Das antwortet Roman, der 30 Jahre alt ist und in Moskau lebt. Er bittet darum, weder seinen Nachnamen zu veröffentlichen, noch sein Gesicht zu zeigen. Das versteckt er, weil er nicht möchte, dass er wiedererkannt wird, etwa von Kollegen. Er möchte nicht, dass man denken könne, er wolle sich als besonders tugendhaft profilieren.
Roman hat gleich drei Jobs, im Handel und im Baugewerbe. Einen großen Teil seines Einkommens investiert er in sein Projekt „Slowo Pazana”: „Im Internet gibt es so viel Negatives. Ich möchte einmal ein gutes Vorbild für meine Kinder sein“, erklärt er. „Heute sehen die jungen Menschen im Internet so vieles, was ihren Charakter verdirbt. Sie setzen die falschen Prioritäten. Ich wollte einen alternativen Content schaffen, der zeigt, wie einfach es sein kann, etwas Gutes zu tun.” Er kaufte sich eine Kamera und bat einen Bekannten, der sich damit auskannte, um Unterstützung. Roman hatte bis dato keinerlei Erfahrung als Youtuber, doch bereits sein erster Beitrag, der Ende Dezember 2018 erschien, wurde von fast acht Millionen Menschen gesehen. Er nannte seinen Kanal „Slowo Pazana” („Das Wort eines Mannes“), weil er findet, dass man zu seinem Wort stehen sollte. Ein Grundsatz, der ihn seit seiner Kindheit begleitet. Roman glaubt, dass die jungen Leute seine Beiträge mögen, weil sie ihn als einen der ihren betrachten, was er auch ist. „Nur wenige Menschen in meinem nächsten Umfeld wissen, was ich da mache”, sagt er. „Irgendwann kommt wohl der Tag, da werde ich aus der Deckung kommen müssen. Doch im Moment bevorzuge ich die Anonymität.“
Roman wählt die Protagonisten seiner Videos oft zufällig aus. Beim Dreh des Beitrags über die Rollstuhlfahrer im Kaukasus trafen sie auf einige ältere Frauen, die auf der Straße Lebensmittel verkauften. Roman und seine Begleiter beschlossen spontan, ihnen alles abzukaufen und hielten die Aktion mit der Kamera fest. Den alleinerziehenden Vater Wadim mit seiner Großfamilie hat ihnen die Stadtverwaltung vorgestellt. Die Abonnenten seines YouTube-Kanals machen auch Vorschläge für mögliche Hauptdarsteller.
Niemand von ihnen weiß, dass Roman sie besuchen wird, um ihnen zu helfen und über sie zu berichten. Es ist immer eine Überraschung, daher sind die Emotionen, die in Romans Videos gezeigt werden, auch echt, sowohl die der Protagonisten als auch Romans.
Ilja, der im Video über die Rollstuhlfahrer mitwirkt, verbrachte vorher den ganzen Tag liegend zu Hause, zuletzt war er vor einem halben Jahr vor der Tür. Wenn er draußen war, wusste er nicht, was er dort anfangen sollte. Roman sagte ihm: „Ilja, wenn Du lernst, Deinen Rollstuhl zu benutzen, arbeite ich eine Route für Dich aus, die zum Park und den Geschäften führt. Ich baue Rampen an Bordsteinkanten. Das verspreche ich Dir. Aber Du musst zuerst aufstehen!”
In einem anderen Beitrag lernen wir Wiktoria kennen, ein Mädchen, dass eine unheilbare Krankheit hat. Roman nimmt sich all diese Schicksale zu Herzen. „Früher hat mich das nicht berührt. Mir ging es ja gut.” Nachdem er die Menschen und ihre Schicksale besser kennengelernt hat, weiß er nun: „Es sind Menschen wie Du und ich. Jedoch ist es für sie schwieriger, ihr Leben zu bewältigen. Schon das Verlassen des Hauses kann ein großes Problem sein.“
Roman möchte noch viel mehr Menschen helfen, etwa den Opfern von Waldbränden oder alten Menschen, die einsam in abgelegenen Gebieten wohnen. Doch er gibt zu, dass es für ihn zunehmend schwieriger wird, sein Projekt ohne Unterstützung, etwa durch Werbung, weiterzuführen. Doch er möchte nicht für jeden werben. Noch fehlen ihm genügend Abonnenten (im Mai waren es 365 000), um große Werbetreibende wie Yandex anzuziehen. Dafür braucht er mindestens eine Millionen Follower. Das Projekt ist viel Arbeit für nur zwei Personen. Er bedankt sich bei seinen Abonnenten, die neben Spenden auch jede andere Art von Unterstützung anbieten. „Die Leute haben Wadim und seiner großen Familie Lebensmittel geschickt. Sogar aus dem Altai kam ein Paket. In Tula hat uns ein Abonnent einen GAZ-LKW zur Verfügung gestellt, damit wir Lebensmittel verteilen konnten. Ein anderer hat geholfen, damit ein Kriegsveteran einen Ofen bekommt”, berichtet Roman.
Einmal gab es ein unerfreuliches Ereignis. Ein vermeintlicher Helfer wollte Romans Projekt nutzen, um Werbung für sich selbst zu machen und startete Live-Übertragungen auf seinem eigenen Kanal. „Er wollte es einfach nicht sein lassen, obwohl ich ihn mehrfach darum gebeten hatte. Da bin ich deutlicher und weniger höflich geworden”, erzählt der Youtuber. Er betont, dass es ihm neben der Hilfeleistung auch darum geht, andere zum Nachahmen zu inspirieren. Und das funktioniert. „Die Follower erzählen mir, dass sie selbst alten Damen Essen bringen. Manchmal sagen Sie auch einfach nur Danke. Es gibt sogar Schreiben aus dem Ausland.”
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