Die letzten Minuten vor dem Flugzeugabsturz – das ist der Name des Videos, das seit anderthalb Monaten in den sozialen Netzen im Umlauf ist. Darauf ist zu sehen, wie eine Maschine der kleinen russischen Fluggesellschaft Angara notlandet: Sie überquert im Tiefflug Wohnhäuser, nähert sich mit großer Geschwindigkeit der Landebahn, rollt über sie hinaus und kracht in ein Gebäude. Der Autor des Videos hätte sterben können (das Flugzeug wurde nach der harten Landung anderthalb Stunden lang gelöscht), wenn diese Frau nicht gewesen wäre.
Die 41-jährige Flugbegleiterin Jelena Lapuzkaja rettete allein, mit gebrochenen Rippen, alle 43 Passagiere. Man berichtete über sie: „Sie hat Unmögliches vollbracht.“ Und danach wurde sie vergessen.
Aber plötzlich taucht Jelena wieder in der Erinnerung der Menschen auf. Dutzende überregionale Medien berichten erneut über sie.
„Mir wurde klar, dass meine Crew nicht mehr am Leben war.“
Die An-24 der Angara Airlines startete am 27. Juni 2019 von Ulan-Ude in die kleine burjatische Siedlung Nischneangarsk. Der Flug verlief normal, aber kurz vor der Landung begannen die Probleme. 30 Kilometer vor der dem Ziel versagte das Triebwerk.
Passagiere und Besatzung erkannten, was vor sich ging. Einer der Passagiere sagte später, dass jedem in der Kabine bewusst war, dass ein Motor ausgesetzt hatte: „Es war offensichtlich. Natürlich war es sehr beunruhigend, aber niemand geriet in Panik. Und als das Flugzeug den Boden berührt hatte, waren alle erleichtert: Wir landeten, aber plötzlich...“
Die An-24 schoss 100 Metern über die Landepiste hinaus, krachte in das Gebäude eines Klärwerkes und der rechte Motor fing Feuer. Der Pilot Wladimir Kolomin und der Bordtechniker Oleg Bardanow kamen sofort ums Leben, der zweite Pilot verließ das Flugzeug durch die Notluke des brennenden Cockpits und überlebte. Für das Flugzeug mit seinen 43 Passagieren gab es nur eine einzige Flugbegleiterin – Jelena.
„Sobald das Flugzeug den Boden berührt hatte, wurde mir klar, dass die Situation nicht normal war. Ich verstand, dass ich schnell handeln musste....Und als das Flugzeug über die Landebahn hinausschoss,war mit klar, dass es ernst werden würde. Dann gab es einen sehr starken Schlag. Und ich erkannte, dass meine Crew wahrscheinlich nicht mehr am Leben ist. Ich verlor jedoch nicht die Nerven – ich wusste, was zu tun war“, erinnert sich Jelena in einem Interview mit der Komsomolskaja Prawda.
Noch bevor das Flugzeug Feuer fing, gelang es ihr, die Türen des hinteren Notausgangs zu öffnen und den Griff der aufblasbaren Notrutsche zu ziehen. Dabei brach sie sich drei Rippen und verletzte ihr Bein. Aber innerhalb von nur fünf Minuten hatte sie alle Passagiere, darunter einen mit einer Behinderungen, aus dem Flugzeug evakuiert und erst danach verließ sie selbst das brennende Flugzeug.
Eine schreiende Ungerechtigkeit
Daraufhin beantragte die Fluggesellschaft beim Verkehrsministerium die Ehrung von Jelena Lapuzkaja. Aber die Entscheidung zog sich hin. Man erinnerten sich erst nach einem weiteren „Wunder“ an die heldenhafte Flugbegleiterin: Am 15. August brachten zwei junge Piloten ihr Flugzeug mit vollen Treibstofftanks, eingefahrenem Fahrwerk und 233 Menschen an Bord auf einem Maisfeld in Moskau zur Landung. Sie erhielten sofort den Titel Held Russlands verliehen, der Rest der Crew erhielt den Orden für Tapferkeit.
Die Geschichte mit dem Happy End sorgte für Unmut – warum wurde dann noch nicht die Flugbegleiterin ausgezeichnet, die allein alle Passagiere gerettet hatte? „Vor dem Hintergrund der zweifellos gerechtfertigten Ehrung der Besatzung von Ural Airlines erscheint die Situation mit Lapuzkaja wie eine krasse Ungerechtigkeit. Und der Unmut nimmt zu. Da sich das jüngste Ereignis bei Moskau ereignete, seien die Helden sogleich im Blickpunkt der Öffentlichkeit gewesen. Nischneangarsk dagegen ist weit weg – und wen juckt es?", schrieb Andrej Medwedew, Journalist des staatlichen Fernsehsenders Rossija 1 in den sozialen Netzwerken. Solche Kommentare gab es Hunderte. Allmählich verwandelte sich die Unzufriedenheit in eine Kampagne – Präsident Putin wurde bereits gebeten, Jelena zu belohnen.
Jelena verbrachte nach dem Vorfall von Nischneangarsk drei Wochen im Krankenhaus. Die Rippenbrüche seien immer noch nicht verheilt und das riesige Hämatom an ihrem Bein wolle nicht verschwinden, erzählt ihre Mutter Irina. Jelena selbst sagt in einem Interview, dass sie keine Auszeichnung erwarte, und dass all das nicht nur ihr Verdienst sei. „Ich denke, dass das Flugzeug [von den Piloten] bewusst zur Kläranlage gelenkt wurde. So haben sie das Flugzeug zum Stehen gebracht. Sonst wären wir weiter gerollt, in ein Wohngebiet hinein...“. Sie ist seit 18 Jahren in der Luftfahrt tätig und plant, auch weiterhin zu fliegen.