Umarmungen mit Fremden: Wie in Kuschelpartys veranstaltet werden

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WICTORIA RJABIKOWA
Helfen diese Partys bei der Lösung persönlicher Probleme? Auf die Suche nach der Antwort begab sich unsere Korrespondentin, die es hasst, Fremde zu umarmen.

Das lichtdurchflutete Dachgeschoss des neunstöckigen Plattenbaus am Rande Moskaus sieht aus wie ein Yogastudio: Auf dem Holzboden befinden sich mehrere Gymnastikmatten und Polsterhocker mit Decken. In der Ecke ist eine Küche mit einem großen Tisch voller Kekse, Gläser und Saftflaschen. Ein paar Stühle und ein kleines Sofa stehen an der Wand. Aber nicht Liebhaber indischer Praktiken versammeln sich hier, sondern diejenigen, die bereit sind, Fremde gegen Bezahlen zu umarmen. Ein Stunde später wird es hier stickig von den ganzen Umarmungen und nass vor Tränen sein.

Erste Bekanntschaften

„Offen gesagt, war ich heute Früh sehr traurig und bin es jetzt immer noch“, sagt eine große, etwa 28-jährige Brünette ohne einen Anflug von Sarkasmus. Sie ist eine von drei Dutzend Menschen, die zur Kuschelparty gekommen sind, einer ziemlich trendige „Unterhaltung“ für Erwachsene in Russland. Es ist offensichtlich nicht die erste Veranstaltung hier: Ein paar Teilnehmer halten die Hände nach vorne und drehen ihre Handflächen – eine Geste der Unterstützung, Wir fühlen uns genauso, soll das heißen.

Es scheint, dass alle da sind. Die Teilnehmer sitzen im Kreis auf dem Boden und stellen sich vor. Die meisten von ihnen sind lässig angezogen, nur eine junge Frau trägt einen Flies-Overall und eine andere hat Glitter auf ihren Wangen. Alle schauen sich suchend nach potenziellen Partnern für den Abend um. 

Einer der jungen Männer scherzt, dass es wie bei einer Sekte sei oder sich um eine neue Unterhaltung der Millenniums handele – ein paar Lacher sind zu hören. Eine junge Frau, die wie ein Teenager aussieht, sagt, sie sei sehr nervös: Sie ist zum ersten Mal hier und weiß nicht, ob sie einen Fremden umarmen könne. Ein großer braunhaariger Mann, der an der Wand lehnt, sagt, er wolle es heute „langsam angehen“ lassen.

Ich schaue mir die Teilnehmer an und versuche mir vorzustellen, wie einsam sie sich fühlen. Meine Nachbarin schaut mich an – eine kleine Brünette mit herzförmigem Gesicht. Vor dem Fenster geht die Sonne unter und aus einer Boombox tönt beruhigende Musik.

Auswahl mit Leidenschaft

Die ersten Partys dieser Art fanden zu Beginn des Millenniums in den USA statt. Diese Art Massentherapie wurde von ein paar Freunden erfunden – Reid Mihalko und Marcia Baczynski. Die Partys mit unbegrenzten Umarmungen von Fremden für Introvertierte und „verlorene Seelen“ begannen in Moskau vor einigen Jahren und werden immer beliebter. Sie finden auch in St. Petersburg, Kirow, Kaliningrad, Rostow am Don, Samara, Krasnodar, Jekaterinburg, Nowosibirsk und Tomsk statt. 

Es ist nicht so einfach, an einer Kuschelparty in der Hauptstadt teilzunehmen – zuerst müssen Sie ein Formular auf der Website ausfüllen und Ihre Konten in den sozialen Netzwerken, die E-Mail-Adresse und persönliche Telefonnummer angeben. Danach werden Sie vom Admin kontaktiert, der Ihnen Fragen stellt. Unter anderem wird gefragt, was Sie erwarten, wie Sie sich unter Fremden fühlen und ob eine Diagnose eines Psychotherapeuten vorliegt. Die Antworten müssen per Sprachnachrichten erfolgen – so ist es für den Moderator einfacher festzustellen, ob Sie die Wahrheit sagen.

Wurden Sie ausgewählt, wird Ihnen die Bankverbindung zum Bezahlen der Eintrittskarte im Wert von 1000 Rubel (14 Euro) und die Adresse mitgeteilt. Vor dem Treffen werden Sie daran erinnert: „Achten Sie darauf, ordentlich angezogen und frisch gewaschen zu sein.“ 

Zu Beginn der Party werden die Grundregeln verkündet: kein Sex, keine Küsse, keine Fotos. Wenn Sie einen Fremden umarmen wollen, müssen Sie ihn vorher fragen. Außerdem dürfen Sie sich nicht ausziehen, Menschen verletzen oder Dinge beschädigen.

Tränen und Umarmungen

Die kurze Vorstellung im Kreis endet mit einer allgemeinen Meditation. Die Leiterin Maria, die an eine freundliche kleine Fee erinnert, bittet darum, tief einzuatmen. „Spürt Euren Schwerpunkt, der Wurzeln in den Boden treibt.“ Bei dem Versuch, „Wurzeln zu treiben“, fühle ich mich innerlich irgendwie unwohl. Ich öffne meine Augen – die Menschen um mich herum sehen friedlich aus wie schlafende Kinder.

Es folgt ein Zyklus von Paarübungen, bei dem die Partner ihre Gefühle teilen und erste Berührungen austauschen. Ich muss einen eigenen Partner aus dem Kreis auswählen. Mein Blick bleibt sofort bei meiner Nachbarin mit dem herzförmigen Gesicht hängen. Als ich mich an sie wende, bleibt mir nur noch Zeit, „Ich bin müde“ zu murmeln und, wie auf ein Fingerschnippen, fließen Tränen aus meinen Augen. Hier ist das nicht verpönt. Ihre eine Hand streichelt meinen Kopf, die andere kost meinen Rücken. Ich fühle mich etwas betreten, aber sehr gemütlich.

Nach einer Minute sagt sie: „Ich fühle einen großen Schmerz. Ich kam, um meinen Ex-Mann zu vergessen, aber er ist auch zu dieser Party gekommen. Mir schießt es durch den Kopf: „Oh, Mann! Und ich habe gedacht, ich habe Probleme!“ Jetzt ist es an mir, sie zu trösten.

Freizeit

Zehn Minuten später flüstert sie mir ein „Danke“ zu und sucht sich einen neuen Partner. 

Nun ist „Freizeit“, während der man tun kann, was man will. Dima wendet sich mir zu und schlägt mit schnarrender Stimme verlegen vor, Händchen zu halten. Okay, da stehen wir also für dreißig Sekunden. Er versucht, mir in die Augen zu sehen, während mein Blick auf den schönen Braunhaarigen ruht, der es „langsam angehen“ wollte: Er krabbelt wie eine Raupe auf dem Boden herum und wandelt dann zwischen den umarmenden Paaren mit einem verschmitzten Grinsen umher. 

Nach einer Minute befinde ich mich in den starken Armen eines anderen Mannes – ich bekomme kaum Luft, will aber nicht losgelassen werden. So stehen wir fünf Minuten lang, bewegen manchmal unsere Füße im Takt der Musik von rechts nach links und tun so, als würden wir tanzen. Er möchte seinen Namen nicht sagen, erklärt aber, dass er sich jetzt gut fühlt. 

Nachdem ich die Augen wieder geöffnet habe, sehe ich, dass sich die Teilnehmer in kleine Gruppen aufgeteilt haben. Jemand sitzt am Tisch, einer umarmt einen Pfosten, aber die meisten von ihnen liegen paarweise sich auf den Matten in den Armen.

„Weißt du, es ist sehr seltsam, hier mit dir zu liegen und über uns zu reden“, höre ich die leise Stimme meiner ersten Partnerin. Sie liegt zusammen mit ihrem Ex-Mann und wirkt sehr aufgeregt.

Dima hat es sich zu meiner Rechten bequem gemacht und erzählt mir bedächtig, dass er als Administrator an einer Universität arbeite und das Gefühl habe, sich in seinem Beruf nicht realisieren zu können. Wir halten Händchen und ich lege meinen Kopf auf seine Schulter. 

„Ich bin generell nicht gut darin, etwas umzusetzen“, fügt er hinzu. 

Ich stelle die Musik in meinen Kopfhörern etwas lauter, schließe meine Augen und versuche, mich von den Stimmen um mich herum abzulenken. Ich merke, wie ich einschlafe.

Man kann nicht vor sich weglaufen

Als ich aufwache, ist die Party fast vorbei. Ich schaue auf die Uhr und mir wird klar, dass ich fast drei Stunden hier bin. Die Teilnehmer setzen sich wieder im Kreis zusammen, um ihre Eindrücke zu teilen.

„Ich habe niemanden umarmt, aber ich fühle mich viel besser. Danke!“, sagt die junge Frau mit dem Glitter auf den Wangen. Ihrer Antwort folgt eine Grabesstille – die meisten sind in ihre Gedanken vertieft, haben es aber nicht eilig, diese in Worte zu fassen.

„Das war eine fast unerträgliche Unterbrechungen der Zärtlichkeit“, bricht einer der Jungs das Schweigen.

Maria bittet meine erste Nachbarin, ihre Eindrücke mitzuteilen. Diese senkt den Kopf und presst heraus:

„Normalerweise gehe ich auf solche Partys, um anderen zu helfen. Aber man kann nicht vor den eigenen Gedanken davonlaufen. Der Schmerz ist immer noch da.“

Jemand schnaubt verständnislos – es ist ihr Ex-Mann. Die anderen schweigen und haben ebenfalls die Köpfe gesenkt. Jetzt möchte ich meine Nachbarin wirklich umarmen. Und sogar außerhalb der Gruppe.

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