Warum selbst Ungläubige in Russland ihre Kinder taufen

Reuters
Etwa 90 % der orthodoxen Russen wurden getauft, die überwältigende Mehrheit von ihnen nicht aus eigenem Antrieb.

„Fastest du überhaupt? Wann hast du das letzte Mal die Kommunion empfangen?“ – vor der 24-jährigen Katerina sitzt ein stämmiger Geistlicher und stellt Fragen. Die junge Frau zuckt leicht zusammen, sie fühlte sich noch nie wohl in den Mauern einer Kirche. Ihrer Meinung nach strahlen heute praktisch alle Gotteshäuser „böse Energie“ aus.

„Ich faste nicht, habe aber einen gesunden Lebensstil, die Kommunion habe ich vor 7 – 8 Jahren das letzte Mal empfangen", rechtfertigt sie sich und verschweigt, dass ihr Vater sie gezwungen hat, in die Kirche zu gehen. Und dass sie sich seitdem als Atheistin betrachtet auch.

 „Wie wirst du dann deinem Kind eine gute Mutter sein können?“ – der Geistliche ist empört.

„Ich liebe es und werde es vor allen Übeln schützen“, antwortet Katerina. 

Der Priester verdreht die Augen, als ob er solche Sätze jeden Tag hört. Mit völlig gleichgültigem Gesicht nimmt er das Formular für die Unterweisung über das Sakrament der Taufe, trägt etwas ein und reicht es der jungen Frau. 

Die Taufe ihrer Tochter fand eine Woche später statt. Katerina erinnert sich an sie als ein „langweiliges und überflüssiges Ereignis“.

„Und 3.500 Rubel (50 Euro) dafür bezahlt, lieber hätte ich dafür Kinderkleidung gekauft“, sagt sie. Nach der Taufe glaubte sie trotzdem nicht an Gott und das Verhältnis zu ihren Eltern verschlechterte sich noch mehr.

Das Meinungsforschungsinstitut WZION fand heraus, dass in Russland 86 % der orthodoxen Christen getauft worden sind, 66 % davon auf Wunsch der Eltern oder Verwandten. Nur 20 % haben selbst entschieden, den orthodoxen Glauben anzunehmen.

Es gibt niemanden, für den man Kerze aufstellen könnte

„Ich wurde mit 13 Jahren gewaltsam getauft, meine Großmutter wollte es, sie war gläubig“, erinnert sich die 43-Jährige Ludmila aus Jaroslawl. 

Sie ertrug die Salbung mit Ekel. Die Tortur wiederholte sich, als Ludmila ein Kind mit einer Behinderung zur Welt brachte. „Meine Mutter wollte für es beten und eine Kerze in der Kirche aufstellen, sie wurde damals plötzlich sehr religiös. Sie könne nicht für ihre ungetaufte Enkelin beten, sagte sie. Ich stimmte unter der Bedingung zu, dass sie es zu nichts zwingen werde“, erinnert sich Ludmila. 

Nach zehn Jahre war das Kind vollständig kuriert. Aber ihrer Meinung nach haben Gebete und Kerzen nichts damit zu tun. „Ja, ich habe es meinen Verwandten rechtgemacht. Aber ihr Wunsch hat eine eigenständige Entwicklung in dieser Frage verhindert. Kirche assoziiere ich unterbewusst mit Zwang“, sagt die Frau.

Andere befragte Frauen haben eine viel einfachere Einstellung zur Taufe.

„Ich glaube nicht, also habe ich die Taufe nie ernst genommen. Die Taufe des Sohnes war wie ein gewöhnliches Fest“, sagt die 30-jährige Sofia. Sie taufte ihr Kind auf Wunsch ihrer Eltern. Sie begründeten auch die Notwendigkeit der Taufe: Nur ein Getaufter darf in der Kirche beten und nur für einen Getauften kann ein Trauergottesdienst abgehalten werden.

„Das ist keine Tätowierung, sie hinterlässt keine Spuren und bindet uns an nichts. Es ist wie der erste Geburtstag eines Kindes – es bekommt nichts mit, man zieht es hübsch an, lädt die Verwandten ein und hat Spaß. Aber mit der Kirche hatten und haben wir nichts am Hut“, fasst Sofia zusammen.

Die Angst um das Kind und der Glaube an Engel

Die russisch-orthodoxe Kirche bestreite nicht, dass die Taufe für einige Eltern eine formale Prozedur ist, sagt der Priestermönch Alexander Mitrofanow.

„Deshalb führen wir jetzt vor der Taufe mit Eltern und Paten ein Einführungsgespräch. Aber es ist ganz logisch, dass ein Elternteil gläubig ist und das andere zumindest nichts gegen eine solche Erziehung hat. Dafür sind eigentlich die Paten da, die sich Gott gegenüber verpflichten, bei der orthodoxen Erziehung des Kindes zu helfen", erklärt Mitrofanow.

Viele Menschen in Russland bleiben im Bereich der Religion ungebildet, sagt der Psychologe und Psychotherapeut Andrej Jefremow. 

„Je ungebildeter ein Mensch ist, desto mehr ist er von Ängsten in seinem Inneren betroffen. Für sie ist die ganze Welt um sie herum eine ständige Gefahr. Da eine solche Angst imaginär ist, sind auch die Schutzmittel imaginär. Wenn ungläubige Eltern ein Kind taufen, wird die Taufe zur Illusion“, erklärt JJefremow.

Die Taufe ist eine psychologische Form der Gewalt, sagt der Psychologe und kann in Zukunft zu Problemen in der Familie führen. 

Orthodox zu sein bedeutet in Russland ein „echter Russe“ zu sein, d.h. Orthodoxie bedeutet ethnoreligiöse Zugehörigkeit, sagt die Doktorin der Geschichte und Professorin für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Höheren Schule für Wirtschaft Tatjana Kowal. Die Orthodoxie entspricht auch der ideologischen und politischen Einstellung des Establishments.

Natalia war im neunten Monat schwanger. Die Ärzte sagten ihr, dass das Kind nach dem errechneten Termin auf die Welt kommen werde und versicherten ihr, dass dies nicht schlimm sei. Die Frau hatte Angst um das Baby und beschloss „für alle Fälle“, eine Kerze in der Kirche aufzustellen. Am selben Tag platzte ihre Fruchtblase und das Baby wurde gesund geboren. Sie ist sich sicher, dass dies kein Zufall war.

„Erst nach der Geburt sagten die Ärzte, das Baby hätte Schaden nehmen können, wenn es noch länger im Bauch geblieben wäre. Ich entschied mich sofort, es zu taufen, nur für alle Fälle“, erklärt Natalia. 

Sie ist sich immer noch nicht sicher, ob Gott existiert. Aber ihr gefällt die Vorstellung, dass ein persönlicher Schutzengel auf das Kind aufpasst.

Künstliche Befruchtung als modernes Wunderwerk

Ljubow lernte Sergej kennen, als sie 22 Jahre alt war. Ein Jahr später heirateten sie, nach einem weiteren Jahr wollten sie Kinder bekommen. Ihr einziger Sohn wurde jedoch erst geboren, als Ljubow 45 Jahre alt war.

„Meine Eier sind nicht bis zur Fruchtbarkeit gereift. Zwanzig Jahre habe ich mich ärztlich behandeln lassen, nichts hat geholfen. Als die IVF in Russland aufkam, beschlossen wir sofort, das Risiko einzugehen. Wir haben viel Geld bezahlt, aber es gab eine Fehlgeburt“, erinnert sich Ljubow.

Der zweite Eingriff war erfolgreich und sie gebar einen gesunden Sohn. Sie wollten ihn taufen lassen, aber das führte zu einem Skandal – Erzpriester Dmitri Smirnow sagte, dass er gegen die Taufe von Kindern sei, die durch IVF oder eine Leihmutter geboren wurden. Später erklärte der offizielle Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche, Wladimir Legojda, dass dies die persönliche Meinung des Priesters und nicht der ganzen Kirche gewesen sei.

Gleichzeitig betrachtete der Priestermönch Alexander Mitrofanov die künstliche Befruchtung als eine Sünde der Eltern. „Die Kirche lehnt künstliche Befruchtung ab, weil sie eine Abtreibungskomponente hat. Aber es ist eine Sünde der Eltern, das Kind hat keine Schuld. Daher sollte die Taufe solchen Kinder nicht verweigert werden“, glaubt der Priestermönch.

„Ein solches Kind sollte getauft werden, auch wenn du selbst nicht gläubig bist. Ist das denn nicht ein echtes Wunder im 21. Jahrhundert?“, räsoniert Ljubow.

So oder so – die Menschen können glauben, ohne in den Details des Dogmas bewandert zu sein. Sie können in die Kirche gehen, nicht weil sie glauben, sondern der Gemeinschaft wegen. Sie können auch glauben und in die Kirche gehen und dabei Schurken sein“, philosophiert Tatjana Kowal. „Letzten Endes weiß nur der Herr, wer Ihm nahesteht und wirklich im tiefsten Inneren glaubt“, ist sie überzeugt.

>>> Taufe in Orthodoxie und Katholizismus: Was unterscheidet sich?

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