Irina Prochodowa ist 30 Jahre alt. Seit einigen Jahren leidet sie an Nervenzusammenbrüchen, aber in letzter Zeit hat sie gelernt, damit umzugehen. Sie hat solche Angst vor Informationstechnologien, dass sie nicht einmal wagt, einen Sprachassistenten zu nutzen, und abends ist sie nur für ihre Verwandten erreichbar. Kürzlich begann sie wieder, Anrufe von unbekannten Nummern anzunehmen, zuckt aber immer noch bei jeder Message auf dem Smartphone zusammen.
„Im April 2015 erhielt ich Nachrichten von etwa 40 Fake-Seiten gleichzeitig in einem sozialen Netzwerk. Alle Botschaften hatten ungefähr den gleiche Inhalt, ohne direkte Drohungen – sie waren einfach so widerlich, dass sie von einem 12-Jährigen mit ADHS geschrieben worden sein könnten. Ich schäme mich immer noch, sie anderen zu zeigen“, erinnert sich Irina.
Die Frau zeigt uns diese Nachrichten nur unter der Bedingung, dass wir sie nicht veröffentlichen. Für einen Außenstehenden erscheinen sie wie ein harmloser Scherz eines Teenagers, aber ihre Zahl und Häufigkeit sind erschrecken.
Irina erinnerte sich gut an diesen Samstag. Am Wochenende darauf wiederholte sich der Vorfall. Ein paar Wochen später noch einmal.
Irina ist seit vier Jahren Mobbing im Internet, dem sogenannten Cyberbullying, ausgesetzt und ihr Fall ist nicht der einzige. Laut einer Studie der Mail.ru Group haben 58 % der russischen Nutzer solche Online-Belästigungen erlebt. Gleichzeitig bleiben 71 % dieser Opfer ohne Hilfe (einschließlich psychologischer), so die Studie.
„Die erste Reaktion ist Panik. Ich glaube, ich fühlte mich in meinem ganzen Leben noch nie so hilflos. Dann riss ich mich zusammen, rief meinen besten Freund an und weinte mich bei ihm aus“, erinnert sich Irina.
Die Frau sperrte ihren Account in den sozialen Netzwerken für Außenstehende. Da begann der Hater, an ihre Verwandten und Freunde zu schreiben. Irina hobt die Sperre ihres Accounts wieder auf, damit die Verwandten nicht weiter belästigt werden. Aber bald schon fand der Hater ihre Telefonnummer heraus.
„Innerhalb einer halben Stunde erhielt ich 60 – 70 Anrufe von verschiedenen Nummern. Sie kamen immer über das Internet, und zwar über das Tor-Netzwerk, so dass die IP-Adresse nicht zurückverfolgt werden konnte. Zudem verwendete er einen Stimmenverzerrer“, erzählt Prochodowa.
Den Anrufen folgten Versuche, sich in ihre Social-Media-Konten zu hacken. In einer der nächsten Nachrichten machte der Übeltäter deutlich, dass er ihre Wohnadresse kennt.
Irina bekam Angst und ging zur Polizei, die sich jedoch weigerte, ein Strafverfahren einzuleiten. Die Korrespondentin von Russland Beyond hat eine Kopie der Ablehnung eingesehen – darin heißt es, „die Untersuchung hat keine Anzeichen eines Verbrechens gezeigt“. Russia Beyond hat daraufhin eine Anfrage an das Innenministerium geschickt. Der Frau wurde nur geraten, alle Telefonnummern und Links auf die Konten, von denen ihr diese Nachrichten gesendet wurden, zu notieren.
Es gibt in Russland kein Gesetz, das Cybermobbing bestraft. Im Jahr 2019 trat ein Gesetz in Kraft, das eine Geldstrafe wegen Beleidigung der Gesellschaft, des Staates, der staatlichen Symbole, der Verfassung oder der Behörden Russlands vorsieht. Hater, die normale Bürger beleidigen, werden für ihr Handeln jedoch nicht zur Verantwortung gezogen.
Cybermobbing wird bestenfalls durch die Paragrafen des StGB für Verleumdung, Morddrohung oder schwere Körperverletzung und Verletzung der Privatsphäre abgedeckt. Es gibt keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Internet-Hacker im Rahmen dieser Paragrafen verfolgt wurden.
Boris Tschernyschow, stellvertretender Vorsitzender des Staatsduma-Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, schlug im November 2019 vor, ein offenes Register der wegen Belästigung angeklagten Hater zu erstellen, berichtete RIA Novosti. Seiner Meinung nach ist die Bloßstellung der Hater ein effektiverer Weg als Bußgelder oder Sanktionen. Ob die Initiative umgesetzt wird, ist nicht bekannt.
Im sozialen Netzwerk VKontakte, in dem auch Irina registriert ist, kann man sich über beleidigende Kommentare beim Moderator beschweren oder unerwünschte User zur Blacklist hinzufügen. Im Falle massiver Belästigungen empfiehlt die Pressestelle des Netzwerks, den Zugriff auf die persönliche Seite zu beschränken.
„Darüber hinaus kann jeder unterstützende Kommentare schreiben oder sich über Seiten beschweren, deren Besitzer für Unannehmlichkeiten sorgt, und ausführlich darüber berichten, was passiert ist. Wir prüfen absolut alle Anfragen. Wenn ein User um sein Leben fürchtet, sollte er sich an die Strafverfolgungsbehörden wenden“, ließ der Pressedienst von VKontakte verlauten.
Anfang November 2019 führte VKontakte eine Funktion hinzu, um beleidigende Kommentare automatisch zu identifizieren und zu entfernen. Die Prüfung dauere einen Tag, berichtete der Pressedienst von vk.com. Es wurde jedoch nicht erwähnt, wann die Funktion voll funktionsfähig sein wird.
Um das Problem der Aggression im Internet zu thematisieren, startete die Mail.ru Group, zu der VKontakte gehört, einen Flash-Mob – unter dem Hashtag #netkiberbullingu (Nein zum Cyberbullying) begannen die User, über Aggression im Internet zu diskutieren.
„Als ich in der sechsten Klasse war (jetzt bin ich in der achten), hat mich ein Freund, mit dem ich zur Englisch-Nachhilfe ging, zu einer Gruppe hinzugefügt. Als ich dort auch etwas schrieb, nannte man mich „dumme und hässliche Schlampe“, schreibt die Userin @_Monaka_Monaka.
User @tae_hel war gezwungen, seine Social Media-Seiten zu schließen, weil er wegen seiner Liebe zu K-Pop-Musik gemobbt wurde.
Nicht nur Alter, Aussehen und Vorlieben für einen Musikstil können der Anlass für Cyberbullying sein, so eine Studie der Mail.ru Group. Hauptgründe für solche Angriffe in Russland sind die sexuelle Orientierung, kardinale Veränderungen im Erscheinungsbild (Tattoos, Piercing, etc.) und Aktivitäten im Internet, aber auch die finanzielle Situation des Users sowie die Manifestation von atypischem Verhalten oder Gewalt.
„15 % der Befragten gaben an, dass Aggression nicht immer eines Anlasses bedarf“, sagt die Studie.
Die meisten Hater haben eine Tendenz zur Psychopathie, sagte der Psychologe und Psychotherapeut Andrej Jefremow.
„Diese Menschen ergötzen sich am Gefühl der Macht. Sie wurden in der Kindheit unterdrückt, haben aber dieses psychologische Trauma verdrängt. Wenn ein solcher Mensch erwachsen wird, spürt er Wut, sieht jedoch die Ursache nicht in sich selbst, sondern in anderen Menschen“, erklärt Jefremow.
Das Opfer hat als Kind wahrscheinlich auch ein Trauma erlebt und hat Angst vor Spott. Wenn es auf das Mobbing mit negativen Emotionen reagiert, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder konsultiert es einen Psychotherapeuten, der hilft, diese Emotionen zu kontrollieren. Oder es absolviert eine Hypnotherapie. Dabei wird das Kindheitstrauma, das die Ursachen für die unerwünschten Reaktionen auf das Cybermobbing im Erwachsenenalter sind, bewältigt“", erklärt der Psychologe.
Zwei Jahre später fand Irina mit Hilfe von Freunden ihren Bedränger. Es war ein junger Mann, mit dem sie in demselben Bürokomplex arbeitete. Wie sie herausfand, schickte er solche Nachrichten an mehrere Frauen gleichzeitig.
„Unsere Büros befanden sich auf derselben Etage, aber wir kannten uns nicht einmal. Sechs Monate nach Beginn des Mobbings wollte er mit mir ausgehen, aber ich lehnt ab, weil ich einen festen Freund hatte. Da wusste ich noch nicht, dass er es war“, erzählt Prochodowa. Sie fand nie heraus, warum der Mann sie mobbte. Ihrer Meinung nach hatte er psychische Probleme.
Das letzte Mal erhielt sie vor zwei Monaten Nachrichten von dem Hater.
„Hoffentlich gehört diese Geschichte der Vergangenheit an. Aber ich bin mir sicher, dass sie nicht spurlos an mir vorbeigehen wird. Cybermobbing ist leider realer, als es auf den ersten Blick scheint“, schließt die Frau.
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