Wie bekämpfen Russen in Kleinstädten ihre Depression?

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WICTORIA RJABIKOWA
Wie kann man sich am Leben erfreuen, wenn es nur Zerfall, Dunkelheit und Frost gibt?

Jeden Morgen von Oktober bis Mai verlässt Dmitri das graue, fünfstöckige Gebäude, geht im Dunklen zu seinem Auto und macht sich auf den Weg durch die Schneewehen. Über Nacht sind die Autoscheiben zugefroren und müssen erst freigekratzt werden. Aber man kann ohnehin nicht viel sehen, es ist noch vor dem Morgengrauen.

Wenn Dmitri von der Arbeit zurückkommt, wird die Sonne bereits wieder untergegangen sein und so wird es die nächsten Monate bleiben.

„Ich hab das alles so satt!“, schreit er und schlägt mit den Händen auf das Lenkrad. Natürlich hört es niemand, nur der Wind wirbelt eine neue Schneewehe über die Straße.

So versucht Dmitri, ein 26-jähriger Marinesoldat aus Murmansk, mit seinen Depressionen fertigzuwerden, an denen er wegen der Polarnacht leidet. Dmitri ist nicht der Einzige – laut Surab Kekelidse, dem Generaldirektor des Serbski-Zentrums, litten 2017 in Russland acht Millionen Menschen (5,5% der Bevölkerung) an einer Depression. Dabei wird diese Psychopathologie bei den Bewohnern des Hohen Nordens häufiger diagnostiziert, besagt eine statistische Erhebung des Gesundheitsministeriums aus dem Jahre 2018.

Adrenalin, Schweigen und Süßigkeiten

„Eigentlich stamme ich aus Woronesch. Ich kam 2012 mit meiner Frau nach Murmansk, 2.500 Kilometer von zu Hause entfernt und mit solchen Wetterbedingungen. Der erste Gedanke, als ich das hier sah, war: Ich bin im Arsch“, erinnert sich Dmitri an seine erste Begegnung mit dem Hohen Norden.

Er sagt, die Tage vergehen schnell, aber routinemäßig.

„Du verlässt die Arbeit, und es ist bereits tiefste Nacht. Und du hast nicht einmal Lust einkaufen zu gehen. Und mit der Tochter muss man ja auch rausgehen, obwohl es hier keine normalen Spielplätze gibt“, sagt er.

Es liege nicht nur am Frost, erklärt Dmitri. Die schlechte Infrastruktur, die niedrigen Löhne und die hohen Lebensmittelpreise sind nicht minder belastend.

„Trotz der recht hohen Mieten liegen das Gehalt eines normalen Murmansker Einwohners nicht über 28.000 Rubel (400 €). Bei uns gibt es auch Fischfang, die Stadt ist schließlich eine Hafenstadt. Aber in den Geschäften ist der Fisch genau so teuer wie in Moskau“, empört sich Dmitri. 

Letztes Jahr kaufte er sich einen Toyota Mark II mit Hinterradantrieb und hat gelernt, auf dem Schnee zu driften. „Das sorgt für Adrenalin und meine Stimmung verbessert sich deutlich“, erzählt er.

Allerdings glaubt Dmitri, es sei unmöglich, die Depression unter solchen Bedingungen vollständig loszuwerden. Er wird noch einige Jahre hier arbeiten, bis sein Kontrakt endet, und dann nach Woronesch zurückkehren.

Christina, eine 29-jährige Managerin aus der benachbarten Stadt Apatity, leidet in der Polarnacht häufig unter Stimmungsschwankungen und ständigem Schlafmangel. „Morgens will ich oft nicht aufstehen. Manchmal schlafe ich bei der Arbeit ein und zuweilen greife ich zu einem Energiedrink, um nicht völlig apathisch zu sein. Und wenn ich nicht mindestens einmal am Tag etwas Süßes esse, fühle ich mich schlecht“, berichtet die junge Frau. 

Jewgeni ist ein 28-jähriger Schlosser aus Norilsk, in der Platin, Gold, Silber, Nickel und Kupfer in großen Mengen abgebaut werden. Sie ist eine der kältesten Städte Russlands und schmutzigsten Städte der Welt,). Er erzählt, dass viele Bewohner bei einer Depression Trost im Alkohol finden. Er selbst leidet auch unter Wutanfällen.

„Normalerweise versuchen wir, uns durch harte Arbeit von der Depression abzulenken. Aber heute hat auch das nicht geholfen – im Nu verwandelte sich meine gute Laune ohne Grund in Wut“, beschwert sich Jewgeni.

In einer solchen Situation versucht er, sich mit angenehmen Gedanken abzulenken, indem er, zum Beispiel, an Reisen in warme Länder denkt. Er will seiner Familie seine Niedergeschlagenheit nicht zeigen, also versucht er, wenn er nach Hause kommt, mit niemandem zu reden und geht gleich ins Bett.

„Man kann versuchen, ein Hobby zu finden – das lenkt ab. Um nicht an die Kälte zu denken, beschäftigte ich mich seit meinem elften Lebensjahr mit Volkstanz. Aber das habe ich aufgegeben, jetzt koche ich nur noch“, erzählt Jewgeni.

Mehr Licht und Gruppenseminare 

Depressionen seien in erster Linie auf den Mangel an Sonnenlicht zurückzuführen, ist sich die Psychologin Olga Valle sicher. Die Depression in der Herbst-Winter-Periode ist jedoch nicht nur für Klein-, sondern auch für Großstädte charakteristisch. Die „Licht- und Lärmverschmutzung“ verschlimmert den Zustand der Menschen sogar noch. 

„Unser Gehirn erholt ich am besten in völliger Stille und Dunkelheit, wenn es einem Minimum an Reizen ausgesetzt ist. Ein solcher Luxus ist für die Bewohner einer Metropole fast unmöglich“, erklärt die Psychologin. „Schlechter, leichter Schlaf, Schlaf- und Ruhestörungen verringern unweigerlich die Immunität und dieser Zustand dauert die ganze Polarnacht an.“  

Gleichzeitig neigen die Russen dazu, nicht auf die ersten Anzeichen einer Depression zu reagieren, was die Situation noch verschlimmert. „Für Russen ist schlechte Stimmung kein Grund zur Sorge. Die Menschen denken: Es gibt keine körperlichen Schmerzen, also geht es bald vorüber“, erklärt Valle. 

Um mit dem Stimmungstief in einer Polarnacht fertig zu werden, sollte man häufiger warme Mahlzeiten zu sich nehmen, sich warm anziehen und für einen guten Schlaf sorgen. Valle empfiehlt zudem, einen Lichtwecker zu kaufen, der den Sonnenaufgang imitiert. Wenn sich der Zustand nicht bessert, sollte man einen Psychologen oder Neurologen aufzusuchen. 

In Norilsk bot das lokale Jugendzentrum Gruppenseminare zur Bekämpfung der saisonalen Depression an. Das letzte Seminar fand 2017 statt. Ähnliche Veranstaltungen werden jedes Jahr in Murmansk durchgeführt, wo vor der Polarnacht auch Lichtanlagen installiert werden, die den Lichtmangel ausgleichen sollen.

Die Korrespondentin von Russia Beyond schickte eine Anfrage an die Verwaltung von Norilsk und das Gesundheitsministerium der Region Murmansk. Sie wollte wissen, wie viele Menschen an saisonaler Depression leiden und wie diesen Menschen geholfen wird.

Depressionen gibt es nicht nur im Norden

Alexandra, eine Schülerin der 11. Klasse, kratzte es auf dem Heimweg wieder im Hals. Dies geschieht jedes Mal, wenn der Betrieb in der Nähe schädliche Gase ausstößt. Sie hat sich daran gewöhnt und will nicht zum Arzt gehen – sie denkt, dass dies nichts bringe. Aber mehrmals im Monat wird sie von Selbstmordgedanken geplagt. Nach der Schule ist sie oft apathisch, liegt einfach da und schaut an die Decke.

„Gewöhnliche Wohngebiete, mehrere Schulen und Kindergärten, eine Fabrik. Zwei Kirchen und eine Kapelle. Die Menschen hier sind einfache Menschen. Sie sind nicht böse, sondern einfach nur erschöpft. Aber wo sind die Menschen heutzutage nicht erschöpft?“, so beschreibt Alexandra ihre Geburtsstadt Karabasch mit deren 11.000 Einwohnern in der Region Tscheljabinsk. In der Liste der schmutzigsten Gebiete Russlands der russischen NGO Seljonyj patrul (Grüne Patrouille) befindet sich diese Region jedes Jahr weit oben. Hier gibt es schwarze Berge mit verbrannter Vegetation, orangefarbene Bäche und rote Erde. Und das alles wegen des hiesigen Betriebs, der Kupfererz zu Kupfer verarbeitet und eine große Menge an schädlichen Gasen ausstößt.

Ihre Depression werde durch das graue und triste Wetter noch verstärkt, erklärt Alexandra. Sie glaubt, dass nur die Gottesdienste sowie die mehrere Kilometer von der Stadt entfernt gelegenen Berge, Wälder und Seen für Linderung sorgen.

„Die Gottesdienste helfen, die seelische Harmonie wiederherzustellen. Und wenn man aus der Stadt herausfährt, hat man einen tollen Blick auf die Stadt und das Trübsal ist gleich wie weggeblasen. Und man will wieder leben", versichert Alexandra.

Der 20-jährige Elektriker Maxim, ein anderer Bewohner von Karabasch, bezeichnet seinen Zustand nicht als Depression, sondern als Stimmungstief. Das letzte Mal begann er vor etwa zwei Monaten, Trübsal zu blasen – ein Zustand, der mehrere Monate oder gar ein Jahr andauern kann.

„Ich habe in dieser Zeit absolut keine Emotionen und spiele mit dem Gedanken, mein Leben zu beenden. In der Freizeit höre ich nur Musik“, erklärt Maxim seine Stimmung in den letzten Monaten.

Er ist überzeugt, dass „die Lebensumstände und die Situation in der Welt“ zu Trübsal führen. Auf die Frage, wie er dagegen ankämpft, ist Maxim erstaunt.

„Wie kann man gegen sich selbst ankämpfen? Warum sollte man kämpfen? Wir kämpfen hier nicht um unsere Existenz, sondern führen ein normales Leben. Wie die Menschen in anderen Provinzstädten Russlands auch“, schließt er.

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