Tabuthema sorgt für Diskussion: Eine Mutter tötet sich und ihre Kinder wegen postpartaler Depression

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Der entsetzliche Vorfall brachte die Gesellschaft dazu, über ein Problem zu sprechen, das jahrzehntelang vernachlässigt wurde.

Vor kurzem ereignete sich in Moskau eine Tragödie, die in den russischen sozialen Netzwerken wie eine Bombe einschlug und die Gesellschaft auf das Problem der postpartalen Depression aufmerksam machte. Am 11. November stürzte sich die junge Mutter Ljudmila Sokolowa mit ihren beiden Kindern aus dem 9. Stock eines Hochhauses. Sie und ein Kind starben sofort, das zweite Kind wurde auf die Intensivstation gebracht.

Zuvor hatte sie mehrmals den Notdienst angerufen und geklagt, dass sie ihr jüngstes Kind mehrere Tage lang nicht stillen konnte. In der Notaufnahme kam es jedoch niemandem in den Sinn, dass die Frau unter PPD litt und für sich und ihre Kinder eine Gefahr sein könnte. Letztlich wurde ein Notarztwagen losgeschickt, aber es zu spät – die Tragödie hatte sich bereits ereignet.

Laut Medienberichten erwähnte Sokolowas Mann in einem Gespräch mit der Polizei, dass seine Frau selbst dachte, sie leide an einer PPD und sogar über Selbstmord sprach. Aber niemand nahm ihre Worte ernst. 

Solche Vorfälle im Zusammenhang mit PPD gab es auch schon in der Vergangenheit. Im Januar 2016 stürzte sich eine 28-jährige Moskauerin mit ihrer sechs Monate alten Tochter zu Tode. Im Juli desselben Jahres kam es zu einem ähnlichen Vorkommnis mit einer 29-jährigen Einwohnerin aus Juschnouralsk und deren einjährigen Tochter. Die Liste kann fortgesetzt werden. 

Jedes Mal versuchten die Ermittlungsbehörden eine rationale Erklärung für das Geschehene zu finden. Aber erst jetzt spricht die Öffentlichkeit ernsthaft darüber, dass die PPD eine schwere und nicht vorhersagbare Krankheit ist, die jede Mutter bedrohen kann, und alle potenziell davon betroffen Personen darüber informiert werden müssen: die jungen Mütter selbst, aber auch Ärzte und Verwandte.  

Hunderte Frauen mit PPD haben darauf reagiert

Die Reaktion auf die Tragödie in den sozialen Netzen zeigt die tatsächliche Haltung der Gesellschaft zu diesem Problem. Wer selbst in einem solchen Zustand war oder jemanden mit diesem Problem kennt, ist beunruhigt und berichtet erschütternde Details darüber, was mit einer Frau in einem solchen Zustand passieren kann.

Uljana, 26, sagte, dass sie ihr Kind, bevor es sechs Monate alt wurde, „eine Schlinge um den Hals legen wollte“. Nach einer schweren Entbindung litt sie unter schlaflosen Nächten und war von Magenkrämpfen geplagt. „Ich habe mir die Schuld für alles gegeben und graue Haare bekommen.“

Inga Talwi schreibt, dass der häufige Klinikaufenthalt ihres kränklichen Kindes bei ihr zu Nervenzusammenbrüchen führte. „Wenn ich auf den Balkon ging (ich wohnte damals im 8. Stock), spielte ich immer wieder mit dem Gedanken, mich mit dem Kind herunterzustürzen. Ich rannte entsetzt in die Wohnung und hasste mich selbst für dieses Chaos in meinem Kopf.“

„Bei meinem ersten Kind musste ich nach fünf Monaten wieder zur Arbeit gehen, um nicht aus dem Fenster zu springen“, teilte Vera mit. 

„Wenn das Kind monatelang nicht schläft, nicht zunimmt, die Brust nicht nimmt, nicht brabbelt, sich nicht dreht, obwohl alle in seinem Alter das schon können... verwandelt man sich leicht in eine Zeitbombe“, schreibt die junge Mutter Nina Belenizkaja.

„Du hast das Kind zur Welt gebracht, nun sieh, wie du zurechtkommst“

Die Debatten in den Sozialen Netzen zeigen auch, dass viele immer noch glauben, die PPD sei nur Einbildung und eine Laune verzogener Frauen. „Das ist eine fiktive Krankheit, so etwas wie vegetative Dystonie. Früher hat man die jungen Frauen auf einen Bauernhof geschickt, dort hat sie selbst entbunden und gestillt und musste auch noch arbeiten“, schreibt Marina Peschkowa.

„Was ziert sie sich so? Im Krieg, im Gefängnis oder im KZ haben sie Kinder zur Welt gebracht. Sollen diese Muttis sich mal erkundigen, wie Frauen in Auschwitz geboren und versucht haben zu überleben! Und heutzutage haben sie Kühlschrank, Waschmaschine und Pampers und kriegen es nicht auf die Reihe. Wacht auf, ihr Prinzessinnen und werdet endlich erwachsen! Um schwanger zu werden und ein Kind zu gebären, wart ihr aber clever genug?“, schreibt Alisa Alisowa.

Eine verbreitete Meinung ist auch, dass jede junge Mutter automatisch glücklich sein müsse. Früher haben sie ohne Probleme zehn Kinder zur Welt gebracht, aber heute seien sie mit einem oder zwei überfordert. 

So etwas wird oft aggressiv von älteren Frauen geäußert. Sie hätten es ja auch irgendwie geschafft, also muss die Tochter selbst zurechtkommen. „Du hast das Kind zur Welt gebracht, nun sieh, wie du zurechtkommst.“

Die kinderreiche Maria erzählte auf Instagram, wie sie sich bei ihrer Mutter darüber beschwerte, wie schlimm es für sie sei, mit zwei kleinen Kindern „eingesperrt“ zu sein. Die habe ihr geantwortet, sie wäre eine schreckliche Mutter.

PPD gab es schon immer 

Psychologen stellten jedoch fest, dass es schon immer PPD gegeben hat. „Die Frau meines Bruders hat in den Sechzigerjahren Selbstmord begangen. Wir wussten, dass es ihr schlecht ging, hatten aber keine Ahnung, dass wie krank sie war. Wir wussten damals nicht, was eine PPD ist“, erinnert sich die 81-jährige Alexandra. 

Vor der Revolution war die ganze Familie an der Erziehung der Kinder beteiligt und normalerweise gab es eine ältere Frau, die das Problem erkennen und rechtzeitig helfen konnte. Darüber hinaus hatte die Frau selbst, die meist in einer Großfamilie aufwuchs, von Kindheit an Erfahrung mit der Erziehung von Kindern und die älteren Töchter waren oft Babysitter.

In der Sowjetzeit spielte die Rolle der „Großfamilie“ teilweise der Staat. Die jungen Mütter konnten bei Bedarf ihr Kind in eine kostenlose Tages- und Nachtkrippe geben und zur Arbeit gehen. Darüber hinaus war der pädiatrische Dienst auf einem sehr hohen Niveau. Ärzte und Krankenschwestern der örtlichen Poliklinik wurden buchstäblich auf jede junge Mutter „aufmerksam“, die ihnen unzuverlässig erschien. Die Bedingungen waren hart, aber die Frauen fühlten sich mit dem Problem nicht allein gelassen.  

Die Isolation der Mütter ist das Hauptproblem

Erst im heutigen Russland befinden sich junge Frauen in der „Isolation“. Das erste Kind, das sie auf den Händen halten, ist ihr eigenes. 

Laut Irina Rjuchowa, einer Stillberaterin, versuchen viele Frauen, eine ideale Mutter zu sein, aber sind aber oft nicht in der Lage, mit den ganzen Informationen zurechtzukommen und wissen nicht, wie sie sie auf ihr Kind anwenden können. Ohne die Unterstützung älterer erfahrener Frauen und der Gesellschaft (Kinderkrippen sind nicht mehr üblich und der Kindergarten steht erst ab dem 3. Lebensjahr zur Verfügung) sind junge Mütter hilflos. Alleine in ihren vier Wänden, sind sie der PPD ausgesetzt. Der Mann geht in der Regel zur Arbeit – es ist in Russland nicht üblich, statt der Frau in den Erziehungsurlaub zu gehen (nur 2 % der Männer tun dies). Es gibt niemanden, der rechtzeitig Alarm schlagen könnte. 

Auch die mangelnde Tradition, Babysitter einzustellen, ist ein großes Problem. Die meisten Familien fehlt dazu das Geld und die Umwelt verurteilt oft die „Kuckucksmütter“, die ihr Kleinkind einem „Fremden überlassen“.

Verschärft wird die Situation dadurch, dass es in Russland nicht üblich ist, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Man hat Angst zuzugeben, sich an einen Psychiater zu wenden“, sagt die Psychologin Darja Tschernowa. Viele fürchten sich vor Tabletten und selbst unter ihren Kolleginnen hört sie oft: „Ich komme auch ohne Medikamente zurecht“.

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