Winter im russischen Norden: Über die Eisbrücke ans andere Ufer

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ANNA SOROKINA
Im Norden fahren die Bewohner im Winter mit dem Auto über die zugefrorenen Flüsse. Der Bau einer Brücke mag auf den ersten Blick als einfache Lösung erscheinen, doch ist dies aufwändig und teuer.

Die Einwohner von Salechard und Labytnangi reisen ständig zwischen den beiden Städten hin und her: Salechard hat einen Flughafen, ein Kino und einen Nachtclub, während es in Labytnangi einen Bahnhof und günstigere Lebensmittel gibt. Diese beiden Städte der Jamal-Halbinsel liegen sich an den Ufern des Flusses Ob gegenüber. Die Entfernung ist nicht groß. Dennoch ist es ein echtes Abenteuer, auf die andere Seite zu gelangen, denn eine Brücke über den Fluss gibt es nicht. Im Sommer verkehren Fähren. Im Winter überqueren die Einheimischen den Fluss über eine Eisbrücke. Diese Konstruktionen sind im nördlichen Russland weit verbreitet, von Archangelsk bis Jakutien.

Wie entsteht eine Eisbrücke? 

Eine Eisbrücke (Russ: simnik) ist nicht nur irgendein Weg über zugefrorene Gewässer. Es ist eine offizielle Straße mit mehreren Fahrspuren und es gelten die Verkehrsregeln. Die Höchstgeschwindigkeit auf dem Eis liegt zum Beispiel bei 40 km/h. 

Sobald sich auf dem Fluss eine Eiskruste bildet, kann der Brückenbau beginnen. Es dauert etwa zwei bis drei Wochen, bis das Eis dick genug ist, sodass Fahrzeuge darüber fahren können.

Zunächst werden Bretter von einem Ufer zum anderen gelegt und dann geflutet. Dies dient der Eisverstärkung. Dazu werden mehrere Löcher in den zugefrorenen Fluss gebohrt und das Wasser nach oben gepumpt. Ein Traktor sorgt dafür, dass sich das Eis auf den Brettern gleichmäßig verteilt. 

Anschließend werden Verkehrszeichen aufgestellt und wo es die Möglichkeit gibt, Kabel zu verlegen, wird die Eisbrücke auch beleuchtet. 

Wenn das Eis mehr als 20 cm dick ist, ist eine Querung für Fußgänger möglich. Ab einer Dicke von 38 cm dürfen auch Autos über den Fluss fahren, ab 50 cm sogar Lkw. Mehr als 30 Tonnen Gewicht dürfen die Fahrzeuge jedoch nicht auf die Waage bringen. 

Die Salechard-Eisbrücke ist dreispurig, 30 Meter breit und 1.700 Meter lang. Ab Salechard gibt es eine Fahrspur für alle Fahrzeuge, während es ab Labytnangi zwei Fahrspuren gibt, eine für Pkw und eine für Lkw, die Güter transportieren, die vom Zug verladen wurden. „Die Überfahrt dauert nur 15 Minuten“, erzählt die Anwohnerin Tatjana Mochnowa. „Im Winter ist es völlig ungefährlich. Es ist eine ganz normale Straße mit Verkehrsschildern und Verkehrspolizisten sowie Videoüberwachung. Den Zustand der Straße kann man von zu Hause aus online checken.”   

Abenteuer Tauwetter 

Bei Tauwetter oder wenn das Eis noch nicht stark genug ist, sieht es dagegen ganz anders aus mit der Sicherheit. Einen Tag, bevor die Querung gesperrt wurde, musste Mochnowa nochmal über den Fluss. Das hat für reichlich Nervenkitzel gesorgt, erinnert sie sich: „Ich wollte vor der Schließung unbedingt noch eine Warenlieferung aus Labytnangi abholen, denn sonst hätte ich lange darauf warten müssen. Der Fahrer eines Kamaz-Trucks war bereit, mich mitzunehmen. Unter den Rädern schmolz die Straße weg, das Wasser stieg bis zu den Fenstern, wir schwammen buchstäblich. Es war schrecklich beängstigend, aber der Fahrer sagte nur: ‚Wovor hast Du Angst. Es ist nicht mein erstes und auch nicht mein letztes Mal.‘ Für einen Kamaz war das keine Herausforderung.“

Zur Personenbeförderung werden außerhalb des Winters Luftkissenfahrzeuge eingesetzt. Auf diesen kann man jedoch bestenfalls ein kleines Gepäckstück mitnehmen. Deshalb freuen sich die Menschen in der Region immer schon auf den Bau der Eisbrücke. 

„Bis das Eis dick genug geworden ist, versuchen alle Geschäfte in Salechard, sich mit Lebensmitteln mit langer Haltbarkeit einzudecken. Milchprodukte verschwinden, nur Nudeln und Fleischkonserven bleiben im Regal. Wenn es wieder Milchprodukte gibt, bedeutet das, dass die Eisbrücke eröffnet ist“, so Tatjana Mochnowa. 

An dieser Querung über den Fluss Sewernaja Dwina beginnt das Eis bereits zu schmelzen. Autos dürfen die Brücke schon nicht mehr nutzen, aber es verkehren auch noch keine Boote. Daher gehen einige Leute einfach zu Fuß. Doch auch mancher Autofahrer ignoriert die Warnungen der Straßendienste und nutzt die Eisbrücke auf eigene Gefahr. Oft genug endet das mit dem Untergang des Fahrzeugs.

„In der Zwischensaison ist es nicht möglich, Ladungen aus Jakutien über den Fluss zu bringen. Sie werden am rechten Ufer am Bahnhof von Nischni Bestjach gelagert”, weiß Nikita Tananajew, der in der Gegend wohnt. „Ich habe noch nie gewagt, nach der Sperrung die Eisbrücke zu nutzen, aber einige brechen die Regeln und im Eis ein. Die Einheimischen sollen die Lastwagen und Waren dann bergen. Es liegen noch immer welche auf Grund“, erzählt er. 

Warum wird keine dauerhafte Brücke gebaut? 

In den späten 1940er und frühen 1950er Jahren gab es tatsächlich Pläne für den Bau mehrerer Brücken in Jamal und Jakutien. Die sowjetische Führung wollte die Transpolare Eisenbahn von Salechard nach Igarka (etwa 1.300 km entlang des Polarkreises auf Sumpfgebiet) bauen. Einzelne Streckenabschnitte wurden fertiggestellt und sollten durch Brücken über die Flüsse miteinander verbunden werden. Doch das Projekt erwies sich als zu teuer und zu schwierig. 

Was war das Problem? Der Fluss Ob zum Beispiel scheint nicht einmal besonders breit zu sein. Doch die Flüsse im Norden sind launisch. Sie ändern ihren Verlauf, so dass die Brücke irgendwann am falschen Ort steht. Zudem sind die Flussbetten instabil. Es muss der richtige Standort für die Brückenpfeiler ausgewählt werden, damit treibendes Eis sie im Winter nicht beschädigen kann. Außerdem ist es Permafrostgebiet. Die Brücken könnten während der Tauwetterperiode wegdriften.

Die Menschen in Jakutsk hätten gerne eine Brücke, obwohl die Bedingungen dort noch schwieriger sind: der Fluss Lena ist ungefähr drei Kilometer breit, so dass eine Überführung zusammen mit den Zufahrtsstraßen ungefähr zehn Kilometer lang sein müsste. Das ist aufwändig und kostenintensiv.  

„Wenn es im Frühling taut und der Pegel steigt, bilden sich häufig Dämme aus Eis und führen zu Überschwemmungen“, beschreibt Nikita Tananajew ein weiteres Problem der Region. 

Dennoch sollen in den kommenden fünf Jahren Brücken in Salechard, Jakutsk und mehreren anderen großen Städten im Norden entstehen. Die Genehmigungen wurden bereits erteilt. 

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