Wann wird der Höhepunkt der Epidemie in Russland erreicht sein?
In Moskau dürfte die Epidemie Anfang April ihren Höhepunkt erreicht haben. Dies ist die Prognose (rus) von Denis Protsenko, Chefarzt der Städtischen Klinik Nr. 40, die zur Corona-Spezialklinik umgebaut wurde. Das Datum kann sich jedoch in Abhängigkeit von der Wirksamkeit der bisher ergriffenen Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Virus ändern.
„[Früher] dachte ich, dass es [der Höhepunkt] Ende dieser Woche soweit sei“, sagte Protsenko am 26. März. Doch diese Prognose war zu optimistisch. „Die Zahl der Fälle wächst immer noch. Jetzt rechne ich mit dem Höhepunkt der Infektionswelle Mitte oder Ende nächster Woche“, korrigierte sich Protsenko.
Die Spitzenwerte bei der Zahl der Infizierten werden wohl auch nicht an allen Orten im Land gleichzeitig erreicht werden. Viel hängt davon ab, wie Russland mit dem Virus umgehen wird.
Im Gespräch (rus) mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, der die Klinik besuchte, erklärte Protsenko, dass sich die Lage bei einem Vorgehen wie in China wohl rasch beruhigen würde, versäume man dies, wie in Italien, würde sie sich wohl verschlimmern.
Der Mediziner erklärte (rus), dass sich die Situation in Russland nach dem optimistischen Modell im April oder Mai stabilisieren könnte, fügte jedoch hinzu, dass man auch für das Worst-Case-Szenario bereit sein sollte. Dann könne niemand vorhersagen, wann man über den Berg sei.
Warum liegt die Zahl der Infizierten in Russland unter der anderer Länder?
Die Zahl der Coronavirus-Fälle in Russland nimmt weiter zu, aber im Vergleich zu anderen Ländern breitet sich die Krankheit nur langsam aus. Bis zum 1. April wurden 2.777 Personen positiv auf Covid-19 getestet. Dies ist erheblich weniger als in vielen anderen von der Epidemie betroffenen Ländern. Zum Beispiel gab es in den USA, in denen derzeit die meisten Fälle auftreten, am 31. März 161.000 Menschen, die bisher positiv getestet wurden, und im Iran waren es 41.000 Fälle. Es ist nicht sicher bekannt, warum sich das Virus in Russland langsamer verbreitet. Es gibt jedoch mehrere Theorien dazu.
„Erstens haben wir weniger Touristen als Italien. Weniger Menschen verreisen ins Ausland. Das Land ist viel größer und die Bevölkerungsdichte ist geringer. All diese Faktoren spielen eine Rolle“, sagt (rus) Wladimir Kolin, Generaldirektor von DNA-Technology, einem Unternehmen das Tests auf das Coronavirus entwickelt.
Andererseits könnten die von den Behörden ergriffenen Maßnahmen die Ausbreitung des Virus in Russland bereits verringert haben. Am 31. Januar kappte Russland die Eisenbahnverbindungen nach China und am 18. Februar wurde für chinesische Staatsbürger ein Einreiseverbot nach Russland verhängt. Zu den jüngsten Maßnahmen gehört die Anordnung häuslicher Quarantäne (rus) für alle Einwohner Moskaus ab dem 30. März, eine arbeitsfreie Woche (rus) in Russland vom 28. März bis 5. April und die Aussetzung (rus) praktisch aller internationaler Flugverbindungen ab 27. März.
Manche Experten gehen jedoch davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Infizierten in Russland viel höher sein könnte als die offiziell bestätigte Zahl.
„Menschen können auch asymptomatisch an Covid-19 erkranken. Jemand kann auch symptomfrei sein und das Virus dennoch verbreiten. Solche asymptomatischen Fälle können erst nachträglich nach einem Antikörpertest entdeckt werden. Im Stadium der Prävention kann jedoch nichts dagegen unternommen werden – das ist nicht möglich“, erklärt (rus) der Infektiologe Walentin Kowaljow. Bisher gab es jedoch keine Belege für diese Theorie.
Ist Russland für den Höhepunkt gewappnet?
Ob Russland auf eine hohe Zahl von gleichzeitig Infizierten vorbereitet ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Nach einer Ansicht könnte es für das russische Gesundheitssystem zur echten Herausforderung werden, wenn die Zahl der Fälle stark ansteige.
„Der Hauptgrund ist die Unterfinanzierung von medizinischen Einrichtungen. Es fehlt an medizinischem Personal, an Ausrüstung usw.“ sagt Andrej Konowal, der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Action. Er sagt, dass Russland erst vor einigen Jahren aus Kostengründen viele infektiologische Abteilungen geschlossen und Betten für Infektionskrankheiten abgeschafft habe. Diese würden nun fehlen, wenn es viele Covid-19-Patienten geben werde.
Andere Experten halten Russland dagegen für wesentlich besser vorbereitet als andere Länder. „Wir erwarten nicht, dass das italienische Szenario hier eintreten wird, und wir haben genug Ausrüstung und alles andere, was wir zur Bekämpfung einer Epidemie benötigen. Wir haben eine ausreichende Zahl medizinischer Beatmungsgeräte. Vor einigen Jahren gab es im Palliativbereich einen Engpass bei mobilen Beatmungsgeräten, daher wurde ihre Zahl aufgestockt. Nun haben wir ziemlich viele. Die großen Kliniken sind ohnehin sehr gut ausgestattet“, meint Larisa Popowitsch, Direktorin des Instituts für Gesundheitsökonomie an der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule der Wirtschaftswissenschaften.
Das größte Problem des russischen Gesundheitssystems seien aktuell Menschen, die Symptome verheimlichen, die auf eine Coronavirus-Erkrankung hinweisen. „Ein Teil der Bevölkerung glaubt, dass seine persönliche Freiheit wichtiger sei als die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Das ist die gefährlichste Kategorie potenzieller Überträger“, so Popowitsch.