Keine Regeln, maximale Freiheit: Diese Familie schockte die UdSSR

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KSENIA SUBATSCHJOWA
Die Familie Nikitin erzog ihre Kinder antiautoritär, mit viel Bewegung und Abhärtung im Freien. Waren sie mit diesem Erziehungsstil erfolgreich?

Ein einfaches Holzhaus auf dem Land. Zwei kleine Jungen und ein kleines Mädchen, die nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet sind, spielen in einem Raum, der mit Spielzeug, Büchern, Instrumenten und Sportgeräten übersät ist. Der älteste, der vierjährige Alexei, löst mathematische Gleichungen an einer Tafel. Olga, die erst anderthalb Jahre alt ist und erst vor kurzem Laufen gelernt hat, hängt kopfüber an einer an die Wand montierten Stange. Sie lacht. 

Die Kinder wechseln schnell von einer Aktivität zur nächsten - einen Moment lang sind sie damit beschäftigt, eine Sprossenwand hinaufzuklettern. Dann nehmen die Jungs eine echte Säge und bauen Spielzeug. Die Mutter scheint sich keine Sorgen zu machen. Sie bringt Olga für einen Mittagsschlaf auf die Terrasse, obwohl es Winter ist. Später rennen die Kinder fast nackt und barfuß in den Schnee, um ihren Vater zu begrüßen, der von der Arbeit nach Hause kommt. 

Dies ist ein Einblick (rus) in das Leben der Nikitins, einer sowjetischen Familie, deren Erziehungspraktiken die Öffentlichkeit in den 1960er Jahren sowohl faszinierten als auch schockierten. Ihre Herangehensweise an frühkindliche Bildung unterschied sich stark vom sowjetischen Mainstream-System, das Kinder in einen festen Tagesablauf zwang, damit sie im Kindergarten Teil der Gemeinschaft wurden. 

Die Nikitin-Kinder konnten ihren Tag jedoch frei gestalten. Jede Kommunikation und Interaktion war bis zum Schulbeginn hauptsächlich auf die Familie beschränkt. Die sowjetischen sozialen Dienste hatten keine Bedenken bei den Nikitins. Es gab nie ernsthafte Probleme oder Unfälle. Es bestand kein Grund zur Besorgnis. 

Boris und Lena Nikitin waren Lehrer und Wissenschaftler. Sie hatten gemeinsam sieben Kinder. Zehn Bücher zum Thema frühkindliche Bildung stammen aus ihrer Feder. Ihre Werke wurden nicht nur in der UdSSR, sondern auch in Ländern wie Deutschland und Japan veröffentlicht und waren sehr populär. Das Haus der Nikitins im Dorf Bolschewo außerhalb von Moskau zog jährlich Hunderte von Besuchern und Journalisten an. 

Warum setzten sie ihren Kindern keine Grenzen und verzichteten auf elterliche Kontrolle? War ihr Ansatz langfristig erfolgreich? 

Bewegungsfreiheit und Immunität gegen Kälte

Der ehemalige Luftfahrtingenieur Boris Nikitin hatte ein starkes Interesse an Pädagogik. Er hatte sogar seine eigene Schule eröffnen wollen, aber er erhielt keine staatliche Unterstützung, um seine Vision zu verwirklichen. Es war 1959, als er seine zukünftige Frau bei einer pädagogischen Veranstaltung in Moskau traf. 

Lena (die tatsächlich nur Lena und nicht Elena hieß, denn sie war nach dem russischen Fluss Lena benannt worden) war Lehrerin für russische Sprache und Literatur und 14 Jahre jünger als Boris. Gemeinsame Interessen und Ansichten über das Leben führten sie zusammen. Beide waren mit dem bestehenden Unterrichtssystem unzufrieden. 

So kam es, dass sie eine Familie gründeten und damit ihre Vorstellungen von der „Schule der Zukunft“ realisierten. Ihre Ideen probierten sie am eigenen Nachwuchs aus. Boris und Lena waren überzeugt, dass es ausreiche, ein förderndes Umfeld für ein Kind zu schaffen. Wachsen, sowohl geistig als auch körperlich, würden sie ohne Hilfe. Die Aufgabe der Eltern beschränke sich darauf, zu führen, zu ermutigen und zu unterstützen. Druck oder Bevormundung waren verpönt. 

Deshalb durften Boris‘ und Lenas Kinder alles anfassen und alles ausprobieren, was ihnen begegnete. Nur so konnten sie ihrer Meinung nach herausfinden, was gefährlich und was sicher ist. Zudem könne man Kinder ohnehin nicht ewig vor Gefahren schützen, war die Meinung der Nikitins. 

Als Alexei Probleme mit der Haut bekam und diese mit herkömmlichen Methoden nicht verschwanden, starteten die Nikitins ein Abhärtungsregime. Die Kinder wurden Kälte ausgesetzt und Alexeis Haut war schon nach einem kurzen Aufenthalt draußen weniger reizbar. So weiteten die Eltern diese Praxis weiter aus und die Nikitin-Kinder schliefen mittags auch im Winter an der frischen Luft oder duschten im Freien. Keines der Kinder war jemals erkältet oder anderweitig ernsthaft krank. 

Es war nicht alles perfekt 

Die Nikitin-Kinder konnten schon im Alter von zwei bis vier Jahren lesen und waren mehr als bereit, mit fünf Jahren in die Schule zu gehen, zwei Jahre früher als gewöhnlich. Ihre „übermäßige Bereitschaft“ zu lernen führte dazu, dass sie einzelne Schuljahre überspringen konnten. Sie wurden nicht gezwungen zur Schule zu gehen. Die intellektuelle Überlegenheit machte es einigen der sieben Kinder schwerer, Kontakte zu knüpfen. Und deshalb schickte keines der Nikitin-Kinder später die eigenen Kinder früher zur Schule, obwohl sie in der Frühkindheit den Erziehungsstil der Eltern pflegten.

Darüber hinaus stellte sich heraus, dass es ihnen schwerfiel, sich an das Leben außerhalb der Familie anzupassen. Sie waren es gewohnt, dass ihnen alles zuflog und dachten, das würde immer so weitergehen. 

Zudem taten sich die Kinder schwer damit, unter den sowohl bewundernden, aber auch kritischen Augen der Öffentlichkeit zu leben. Die Eltern Lena und Boris waren außerdem viel unterwegs auf Vortragsreisen oder mit dem Schreiben von Büchern und Artikeln beschäftigt, die Kinder fühlten sich manchmal allein. 

Erwachsenenleben 

Die öffentliche Erwartung, dass aus den Nikitin-Kindern Genies oder anderweitige Berühmtheiten würden, erfüllte sich nicht. Die meisten der Kinder machten den Schulabschluss nach acht statt wie üblich zehn Jahren, sie erhielten eine Hochschulausbildung und gründeten eigene Großfamilien.  

Auf ihrer offiziellen Website (rus) berichten Sie, wie ihre Kindheit ihr Leben geprägt hat. Sie verraten, dass sie noch immer vieles so machen, wie die Eltern es gelehrt haben. 

Der älteste, Alexei, hat einen Abschluss in Physik und Astronomie und arbeitet jetzt als Berater in London. Anton ist Chemiker und stellvertretender Leiter einer Produktionsabteilung. Olga blickt inzwischen auf 25 Jahre Erfahrung als Anwältin zurück. Anna ist Sanitäterin, Julia Journalistin. Iwan dreht Videos und Ljuba ist gelernte Bibliothekarin und stolze Mutter von zehn (!) Kindern. Sie alle sagen, dass sie sich ausgezeichneter Gesundheit erfreuen. Und sie betonen, dass von ihren Eltern die Liebe zum Lesen geweckt wurde.

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