Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Europa Millionen von Gräbern sowjetischer Soldaten. Nach verschiedenen Schätzungen starben zwei bis vier Millionen (rus) Soldaten, aber kein Historiker kann dies mit Sicherheit sagen. In vielen Fällen ist außer ihren Namen (oft fehlerhaft geschrieben) fast nichts über sie bekannt. Ihre Angehörigen wissen nicht, wo sie begraben sind. Vor Ort helfen Ehrenamtler, die gefallenen Sowjetsoldaten zu identifizieren.
„Die Erinnerung wachhalten“
„Vor zwanzig Jahren wusste ich nichts über diesen Ort, obwohl ich dort geboren wurde. Auch keiner meiner Freunde wusste etwas“, erzählt Remco Reiding, Direktor der Stiftung für sowjetische Kriegsfriedhöfe in Amersfoort in den Niederlanden.
Dort sind 865 Sowjetbürger begraben, darunter 101 im Lager Amersfoort getötete Gefangene (hauptsächlich aus Zentralasien), 691 Soldaten der Roten Armee, die auf dem Friedhof in Margraten (200 km entfernt) bestattet wurden, und 73 Zwangsarbeiter.
„Als ich 1998 bei der Lokalzeitung tätig war, erfuhr ich von einem alten Friedhof mit sowjetischen Kriegsgräbern“, erinnert sich Reiding. Er stellte fest, dass kein einziger der dort begrabenen Soldaten identifiziert worden war und niemand die Angehörigen kannte. Also begann er in niederländischen und deutschen Archiven nach Informationen über sie zu suchen.
Zwei Jahre später war seine Recherche in einigen Fällen erfolgreich und er konnte die Verwandten ausfindig machen und ihnen vom Schicksal der Soldaten berichten. „Ich dachte, wenn das funktioniert, sollten wir versuchen, alle 865 Soldaten zu identifizieren. Das hat mein Leben verändert. Ich bin vom Journalisten zu einem Suchenden geworden“, sagt er.
2010 gründete er die Sowjetische Kriegsgräberstiftung. Er leitet ein Team von Geschichtsinteressierten, die das Schicksal der Soldaten erforschen. Da oft nur Vor- und Nachname der Gefallenen bekannt sind, wenn überhaupt, findet der Hauptteil der Arbeit in Archiven statt. „Wir haben zum Beispiel den Namen Andrej Iwanow und das ist alles. Es gibt Tausende vermisste Andrej Iwanows. Wir nutzen viele Quellen. Eine der wichtigsten ist das OBD-Memorial, eine offizielle russische Online-Datenbank für Kriegsgefangene/Verschollene. Ich habe einmal einen Soldaten identifiziert, der als Ropojezki bekannt war, aber es stellte sich heraus, dass sein Name falsch buchstabiert worden war. Sein richtiger Name war Chrapowezki. Ich hätte ihn niemals in einem Archiv finden können.“
Die Stadtverwaltung und die russische Botschaft in den Niederlanden unterstützen sein Projekt. „Als ich anfing, war der Friedhof längst in Vergessenheit geraten und niemand kümmerte sich mehr darum. Aber jetzt wird meine Arbeit von den Behörden geschätzt“, sagt Reiding. Bis heute hat sein Team 220 Soldaten identifiziert und mehr als 200 Angehörige ausfindig machen können. „Wir haben ziemlich ehrgeizige Pläne, um die Erinnerung am Leben zu erhalten", sagt er.
„Wir wollen allen einen Namen geben“
„Hier gibt es keine Romantik, es ist Routine, aber ein wahnsinnig interessanter Job”, sagt Julia Egger aus Wien. Vor zehn Jahren kam sie aus Smolensk (Westrussland), wo sie als Chefredakteurin der örtlichen Zweigstelle der Zeitung Komsomolskaja Prawda arbeitete, und gründete zusammen mit Landsfrau Alexandra Kolb das Forschungszentrum Pamjat (Gedächtnis) in Österreich.
Alles begann mit dem 2010 vom österreichischen Historiker Peter Sixl (1944-2019) veröffentlichten Werk „Sowjetische Tote des Zweiten Weltkrieges in Österreich, Namens- und Grablagenverzeichnis. Ein Gedenkbuch”. Sixl war von Beruf Ingenieur im Landschaftsbau und hat in den 1980er Jahren ein sowjetisches Militärgrab rekonstruiert. Später erstellte er ein Verzeichnis mit 60.000 Namen und Grabstätten. „Wir haben 2015 bei der zweiten Ausgabe mit ihm zusammengearbeitet“, sagt Julia. „Jetzt beschäftigen wir uns mit der E-Version des Buches. Fünf Jahre später wurde eine große Anzahl neuer Dokumente gefunden.”
In Österreich gibt es mindestens 226 Militärgräber (143 davon sind Massengräber) von mehr als 80.000 Sowjetbürgern: Soldaten, Gefangene von Konzentrationslagern, sogenannte Ostarbeiter. „Einige wurden zwei- oder dreimal umgebettet und wir haben lange Zeit versucht, das System zu verstehen und herauszufinden, wo entsprechende Dokumente zu finden sind“, erklärt Julia und betont, dass sie in österreichischen Archiven immer willkommen seien.
Sie reisten zwei Jahre lang durch das Land und fertigten eine Karte aller bekannten sowjetischen Gräber an. „Wir möchten von jedem Grab ein Foto veröffentlichen, damit die Verwandten es sehen können“, erklärt Julia. Sie erhalten solche Anfragen jeden Tag, aber einige müssen jahrelang auf Antwort warten, weil es nicht einfach ist, den Namen und die tatsächliche Grabstätte zu finden und zu vergleichen.
„Beim Umschreiben von Dokumenten in Archiven kann Sokolow zu Solowjow, Grigorjewitsch zu Georgijewitsch, Alexandrowitsch zu Alexejewitsch werden, aber wir möchten allen ihren Namen wiedergeben. Es ist schwierig, die ursprüngliche Grabstätte zu finden. Österreichische Siedlungen wurden ins Russische transkribiert und es gibt kaum Lagepläne. Noch schwerer wird es, wenn die Personen in den wenigen verfügbaren Dokumenten als Anonym geführt werden“, so Julia.
Dennoch werden in Österreich von Zeit zu Zeit neue Grabstätten entdeckt: in einem Wald, in einigen Dörfern, auf bestehenden Gemeindefriedhöfen. Selbst auf dem Wiener Zentralfriedhof wurden 1980 am Tor X die Gräber von 183 Sowjetbürgern gefunden. Sie wurden erst 2017 identifiziert. Heute steht ein Obelisk mit ihren Namen an der Stelle.
„Bei den Namen herrscht ein Durcheinander“
„In jedem kleinen Dorf gibt es eine sowjetische Grabstätte“, sagt Dmitri Kostowarow aus Dortmund, der 2004 aus Almaty (Kasachstan) hierhergezogen ist. In vielen deutschen Städten, in denen eine große Anzahl sowjetischer Soldaten und Kriegsgefangener begraben ist, gibt es „Suchende“, die alleine arbeiten. Es ist jedoch einfacher, wenn man einer Organisation angehört, weiß Dmitri.
Es begann mit der Suche nach seinem Großvater, der 1942 in der Region Leningrad starb. Es war nicht möglich, genaue Informationen zu finden, aber dabei traf er andere „Suchende“. Er gab schließlich seinen Beruf als Heizungsbauer auf und gründete den historischen Verein Ar.kod.M.
„Die Leute verstehen, dass die Dinge, die damals passiert sind, schrecklich sind, nicht nur während des Krieges, sondern auch danach. Die Toten wurden nachlässig registriert, Denkmäler abgerissen, die Gräber einfach vergessen. Es gibt Leute, die verstehen, dass dies falsch war“, so Dmitri. Noch hat jede Gemeinde eigene Denkmäler und Vorschriften zur Bestattungsregistrierung, doch Dmitri findet, dass dies vereinheitlicht werden müsse.
Sein Team habe allein im Jahr 2019 bei der Suche nach elf Personen helfen und acht Familien zu den Grabstätten ihrer gefallenen Verwandten begleiten können. Er veröffentlicht die Namen von Gefallenen, die er finden konnte, online.
Neben der Suche nach Namen und Grabstätten kämpft Dmitri Kostowarow dafür, an der Stelle eines Lagers in Dortmund ein Denkmal zu errichten: „Jetzt steht dort ein Veranstaltungszentrum, neben dem sich ein Gedenkstein mit einem Hinweis auf das Lager befindet. Aber das ist alles. Ich wollte eine kleine Fläche für ein Archiv, doch das wurde abgelehnt.“