Eine Broschüre der Wohltätigkeitsstiftung „Rette das Leben“
Anton Wergun/TASSDie in der fünften Woche schwangere Hausfrau Vera und ihr Mann, der bei einem Umzugsunternehmen arbeitete, erfuhren Anfang März 2020, zu Beginn des Lockdowns, von der Entlassung des Ehemannes. Sie versuchten, beide neue Arbeit zu finden, doch Vorstellungsgespräche sollte es erst nach der landesweiten Quarantäne wieder geben. Vera und ihrem Mann wurde klar, dass sie kaum genug Geld hatten, um sich selbst durchzubringen, geschweige denn ein Kind. Sie entschieden sich schweren Herzens für eine Abtreibung. Doch sie bekamen keinen Termin.
„Der Arzt sagte mir, dass meine obligatorische Krankenversicherung [für alle Russen kostenlos] möglicherweise keine Abtreibung abdecke. Außerdem seien alle Operationen außer Notfälle verschoben worden. Er sagte, ich könne meinen Fall vorstellen, aber das würde sehr lange dauern und bis dahin wäre es zu spät. Die Art und Weise wie er das sagte, ließ mich vermuten, dass ich wohl nicht die einzige Frau in so einer Lage war“, erzählt Vera im Interview (rus) mit „Coda“.
Am Ende entschied sich Vera dafür, auf eigne Rechnung eine Abtreibung in einer Privatklinik vornehmen zu lassen. Das bedeutete aber auch, Kreditkartenschulden zu machen. Vera ist in der Tat nicht die einzige Frau, der während der Pandemie eine Abtreibung verweigert wurde. Einige Krankenhäuser in Moskau (rus) und anderen russischen Regionen (rus) lehnten kostenlose Abtreibungen ab. Sie wollten die Plätze für Coronavirus-Patienten freihalten, sagten sie.
Doch auch unter normalen Umständen hätte es Vera passieren können, dass niemand den Eingriff vorgenommen hätte. Angesichts der seit 1990 stark rückläufigen Geburtenrate in Russland versuchen viele Gynäkologen die Frauen davon zu überzeugen, nicht abzutreiben.
Nach den neuesten offiziellen Statistiken standen 2018 in Russland 661.000 Abtreibungen 1,6 Millionen Geburten gegenüber. Rosstat, der föderale Statistikdienst, nennt als Hauptgründe (rus) für eine Abtreibung mangelndes Vertrauen in den Partner, Wohnprobleme, geringes Einkommen und mangelnde Sexualerziehung bei jungen Menschen. Laut dem medizinischen Portal „NeBoleem“ (rus) werden 40 Prozent der Abtreibungen auf Wunsch der Frau durchgeführt, 25 Prozent aufgrund von Gesundheitsrisiken für die Mutter, 23 Prozent aufgrund sozialer Probleme, und die restlichen zwölf Prozent aufgrund fetaler Anomalien. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Abtreibungen in Russland von Jahr zu Jahr ab: Von 1993 bis 2018 ging die Zahl um das Achtfache zurück, sagte (rus) Wladimir Serow, Präsident der Russischen Gesellschaft für Geburtshelfer und Gynäkologen, der Zeitung „Iswestija“ im Januar 2018.
Jede russische Frau hat das Recht, eine Schwangerschaft vor der zwölften Woche ohne Kosten zu beenden. Bei einer Vergewaltigung gilt eine 22-Wochen-Frist. Aus dringenden medizinischen Gründen ist auch ein späterer Abbruch möglich. Eine Einschränkung ist, dass Frauen nicht sofort nach einer Abtreibungsberatung den Eingriff vornehmen lassen dürfen. Laut Gesetz (rus) soll die Frau Zeit bekommen, ihre Entscheidung zu überdenken. Diese „Reflexionsperiode“ beträgt zwei bis sieben Tage.
Die Verschiebung des Eingriffs ist nicht die einzige Maßnahme, die Ärzte ergreifen, um Abtreibungen zu verhindern. Sie müssen außerdem einen Ultraschall durchführen, bei dem die Frau das Herz des Ungeborenen schlagen sieht.
„Ich bin eine fanatische Anhängerin der Geburt. Frauen wurden geschaffen, um zu gebären. Es ist unsere Aufgabe, sie von einer Abtreibung abzubringen. Ich selbst habe an vielen Schulen gearbeitet und glaube, dass Kinder schon im Alter von zehn Jahren zu diesem Thema aufgeklärt werden sollten“, sagt die Geburtshelferin und Gynäkologin Elena Ermakowa in einem Interview (rus) mit „Snob“. Sie räumt den Frauen viel Zeit zum Nachdenken ein und berät sie zu finanziellen Hilfen und Unterstützungsleistungen.
Manchmal werden jedoch auch gröbere Methoden angewendet, um Abtreibungswillige zu entmutigen. Die 18-jährige Tatjana aus der Stadt Sawolschje wollte nicht das Kind des Mannes zur Welt bringen, der sie auf der Toilette eines Nachtclubs vergewaltigt hatte. Doch während der Beratung wurde ihr gesagt, dass „ein Mädchen mit genug Verstand zum Herumhuren auch genug Verstand hätte, um noch erzogen zu werden“, erzählte sie 2019 „Afisha Daily“. Der Arzt drohte ihr, die Abtreibung ohne Betäubung durchzuführen, damit der „Schmerz sie daran erinnert, in Zukunft zweimal darüber nachzudenken, bei jeder Gelegenheit die Beine breit zu machen.“ Tatjana finanzierte ihre Abtreibung privat. Sie hat inzwischen geheiratet und will nun geplant schwanger werden.
Maria, Mutter von zwei Kindern aus der Stadt Stary Oskol in der Oblast Belgorod, beschloss, ihr drittes Kind 2018 abtreiben zu lassen. Nach zwei sehr schwierigen Geburten fürchtete sie um ihre Gesundheit. Der Arzt der Geburtsklinik, der versucht hatte, sie davon abzubringen, gab Maria ein Dokument zur Unterschrift, in dem sie erklärte, dass „Abtreibung in jedem Stadium der Schwangerschaft Mord“ sei. Danach gaben sie ihr eine Liste der erforderlichen Beratungsgespräche, die sie vor der Abtreibung führen müsse. Eines davon war bei einem Priester.
„Ich war so schockiert. Warum brauche ich die Erlaubnis eines Kirchenvertreters? Was hat das mit meiner Schwangerschaft zu tun?“, erinnert sich (rus) Maria im Gespräch mit „Lenta.ru“.
Die russisch-orthodoxe Kirche erklärt, dass die Gespräche mit Priestern freiwillig seien, und in die Krankenakte aufgenommen werden können, dies jedoch dazu beiträgt, das Leben von Kindern zu retten. Darüber hinaus hat der Kirchenoberste, Patriarch Kirill, die russischen Behörden zweimal aufgefordert, Abtreibungen nicht kostenlos durchführen zu lassen sowie jegliche Werbung und Propaganda für Abtreibungen zu verbieten.
Die russisch-orthodoxe Kirche drängt zudem darauf, dass ein Recht auf Leben ab dem Zeitpunkt der Empfängnis gesetzlich verankert wird. „Abtreibung ist die ungerechtfertigte Zerstörung des Lebens eines Menschen, d. h. Mord. Daher kann nicht von einem „Recht auf Abtreibung“ gesprochen werden, da dies das Recht auf Mord bedeutet. Abtreibung kann nicht als Familienplanungsmethode anerkannt werden“, heißt es (rus) in einem Entwurf, der 2019 auf der Webseite der russisch-orthodoxen Kirche erschien.
„Magst du keine Kinder? Dann schlaf alleine!“ und „Ein fünftes Kind ist kein fünftes Rad am Wagen“ sind nur einige der Slogans, die von Abtreibungsgegnern verwendet werden, um Frauen von einem Schwangerschaftsabbruch abzuhalten.
„Kinder sind kein Müll“
Anton Wergun/TASSAls eine der größten Gruppen dieser Art ist die Bewegung Sa Schisn (zu Deutsch: für Leben) in 86 Städten in ganz Russland aktiv. Neben Beratungsgesprächen helfen die Aktivisten werdenden Müttern dabei, mit Anwälten, Sozialarbeitern und Psychologen in Kontakt zu treten und leisten finanzielle Unterstützung.
Während der Beratungsgespräche verwenden Freiwillige Embryonenmodelle - spezielle Puppen mit einer „Haut“, die der eines echten Kindes ähnelt. Die Frau wird gebeten, diese Puppe zu berühren, um zu verstehen, dass „hinter kalten medizinischen Begriffen wie fötalem Ei und Embryo richtige Kinder stehen“, erklären (rus) die Aktivisten. Etwa 15 Prozent (rus) der Frauen, die sich von Sa Schisn beraten lassen, entscheiden sich gegen eine Abtreibung. Bei anderen Beratungsstellen sind es nur zehn bis zwölf Prozent.
Natalja Moskwitina, Gründerin der vergleichbaren Bewegung Schenschini sa Schisn (zu Deutsch: Frauen für Leben), sagte in einem Interview (rus) mit „Wonderzine“ im Jahr 2016, dass erschwingliche Verhütungsmittel junge Menschen korrumpieren und zu mehr Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen führten.
Sie findet, dass auch Minderjährige gebären sollten. „Die Schwangerschaft von Minderjährigen ist kein Thema, über das diskutiert werden sollte. Wenn Sie als Mutter und Vater Ihr Kind nicht richtig erziehen konnten und plötzlich Großeltern werden, dann ist das so“, meint Moskwitina.
In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Russen, die gegen Abtreibung sind, laut einer Umfrage (rus) des Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2018 verdreifacht. Der Anteil der Menschen, die Abtreibung für inakzeptabel halten, liegt bei 35 Prozent gegenüber nur zwölf Prozent im Jahr 1998.
Die für Kinderrechte zuständige Kommissarin Anna Kusnezowa ist eine weitere Verfechterin eines Abtreibungsverbots. Sie hat im Mai 2020 vorgeschlagen (rus), die Mittel für Abtreibungskliniken zu kürzen und den Verkauf von Abtreibungsmedikamenten in Apotheken einzuschränken.
Gegen solche Initiativen stellt sich Irina Kirkowa, stellvertretende Vorsitzende des Präsidialrates für Zivilgesellschaft und Menschenrechte. Sie sagt (rus), dass „Frauen in der Lage sein sollten, nach dem Gesetz medizinische Versorgung zu erhalten, um eine Schwangerschaft zu verhindern“.
Auch die russisch-orthodoxe Kirche zeigt sich unter bestimmten Umständen kompromissbereit.
„In Fällen, in denen eine direkte Bedrohung für das Leben der Mutter während der Schwangerschaft besteht, insbesondere wenn sie weitere Kinder hat, wird empfohlen, Nachsicht zu üben“, heißt es (rus) in dem Dokument „Grundlage des sozialen Konzepts der russisch-orthodoxen Kirche“ aus dem Jahr 2000.
„Mein Körper - meine Sache“
Alexander Tschischenok/KommersantPatriarch Kirill räumt die Möglichkeit einer Abtreibung ein, wenn die Mutter vor der Wahl stehe, sich zwischen ihrem Leben und dem des Ungeborenen zu entscheiden.
„Die Entscheidung liegt natürlich bei der Mutter. Aber die Kirche sagt, dass ihr Leben Vorrang haben sollte. In diesem Fall wird sie von der Sünde befreit, weil ihre Handlungen von den Umständen bestimmt werden“, erklärt (rus) der Patriarch.
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