Eine Million Rubel für ein Zelt: Das Tschum – mobiles Heim der Rentierhirten

Lifestyle
ANNA SOROKINA
Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Behausung eines Rentierhirten aus dem gebaut, was an Material gerade verfügbar war. Tatsächlich ist ein Tschum, wie das Nomadenzelt genannt wird, eine sehr teure Angelegenheit.

Können Sie sich vorstellen, in einem Haus zu leben, das jeden Monat neu gebaut werden muss? Genau das ist Alltag bei den indigenen Völkern des russischen hohen Nordens. Wie vor Hunderten von Jahren sind viele von ihnen Rentierhirten und ziehen umher. Immer mit im Gepäck ist ihre Unterkunft, ein Zelt, Tschum genannt. Wie sieht es aus und wie viel kostet es? 

Bauzeit eine Stunde  

Das Tschum ist ein Mobilheim für Nomaden. Im hohen Norden sind die Winter sehr kalt und lang, besonders in der Tundra, wo es nur wenige Bäume gibt. Daher sollte ein Tschum nicht nur leicht auf- und abzubauen, sondern auch warm sein und starken Winden widerstehen können. Theoretisch ist das Design recht einfach: Das Gerüst besteht aus Ästen und Stämmen von Fichten, die als Stützen wie ein Kegel angeordnet werden. Im Winter kommen darüber Rentierhäute, im Sommer eine Plane. 

Der Aufbau dauert ungefähr eine Stunde. Normalerweise fällt diese Aufgabe den Frauen zu. Im Jahr 2018 wurde „Tschum-Baumeister“ offiziell als Berufsbezeichnung registriert, aber heutzutage wird diese Tradition nicht mehr strikt eingehalten, denn zusammen geht es schneller. 

Den zentralen Platz innerhalb des Tschum nimmt der Herd oder sein heutiges Äquivalent ein, ein Metallofen, der als Heizung und Kochstelle genutzt wird. Der Rauch tritt durch eine Öffnung oben im Zelt aus. Um den Ofen herum liegen mit Rentierfell bedeckte Holzbretter. Bei Bedarf kann ein Tschum in Räume aufgeteilt werden. Je größer eine Familie ist, desto größer ist ihr Tschum. Ein Nomadenlager besteht meist aus mehreren Zelten, denn auch bei der Rentierjagd wird heute auf Teamarbeit gesetzt.  

Wenn die Zeit gekommen ist, weiterzuziehen, wird am Abreisetag alles eingepackt und auf einem Narty, einem Schlitten, verstaut. Zuletzt wird das Tschum abgebaut. Ein erfahrener Rentierhirte braucht dafür ungefähr eine halbe Stunde. 

Rentier-Nomaden wechseln ihren Standort häufig, damit ihre Herde nicht die ganze spärliche Vegetation der Tundra frisst. Im Winter zeihen sie nach drei bis vier Wochen weiter, im Sommer sogar jede Woche oder alle paar Tage. Die Routen bleiben das ganze Jahr über mehr oder weniger gleich, so dass sich die Einheimischen auch ohne Navigationsgeräte leicht in der Tundra zurechtfinden könnten, obwohl sie diese Geräte auch nutzen.  

Rentierhirten haben Schneemobile, elektrische Generatoren zum Aufladen ihrer Telefone und Laptops und Walkie-Talkies, um im Notfall Rettung oder einen Hubschrauber anfordern zu können.  

Wie kauft man ein Tschum?  

Bei aller vermeintlichen Einfachheit ist ein Tschum eine teure Angelegenheit und gar nicht leicht zu bekommen. Zunächst benötigt man geeignete Äste und Stämme – kein leichtes Unterfangen, diese in der Tundra aufzutreiben. 25 bis 40 Stützen sind meist erforderlich (abhängig von der Größe). Das Naturprodukt beginnt nach einer Weile zu faulen und muss ersetzt werden, was eine kostspielige Angelegenheit ist, oder zurückgeschnitten werden. Je niedriger ein Tschum, desto älter sind seine Stützen. 

 Zweitens benötigen Sie Rentierfelle. Je mehr Häute verwendet werden, desto wärmer ist das Tschum. An der Zahl der Rentierfälle lässt sich der Wohlstand der Zeltbesitzer erkennen. Angesichts der Tatsache, dass die Temperaturen in Jamal und Tschukotka die Temperaturen auf -50 °C fallen können, betrachten die meisten Familien Rentierhäute als lohnende Investition. Oft sparen sie sehr lange darauf und vererben sie den Kindern. Wenn es kein Fell gibt, ist eine Plane die Alternative, die auch im Sommer häufig zum Einsatz kommt. Bevor es solche Planen gab, wurde das Tschum in der warmen Jahreszeit mit Birkenrinde abgedeckt. 

Im Durchschnitt braucht es für ein Tschum etwa 60 bis 80 Rentierfelle, von denen jedes mindestens 10.000 Rubel (etwa 110 Euro) kostet. Kein Rentierzüchter kann sich so viele Felle auf einmal leisten, dann hätte er kein Rentier mehr. Die Felle werden auch genutzt, um Kleidung und Stiefel herzustellen.  

Früher wurde ein Tschum von den Nomaden in Handarbeit gefertigt. Heute gibt es alle notwendigen Baumaterialien zu kaufen. Im Durchschnitt kostet ein Tschum eine Million Rubel (etwa 11.100 Euro). In dem Preis ist auch ein Holzofen enthalten.  

Für den gleichen Geldbetrag ist es in diesem Teil des Landes auch möglich, eine Wohnung zu kaufen oder ein Haus zu bauen. Viele Nomaden haben in der Tat auch zusätzlich gewöhnliche Wohnungen, in denen sie ihre Ferien verbringen oder den Ruhestand. Diese Wohnungen werden staatlich gefördert und subventioniert. Um jedoch in der Tundra arbeiten zu können, ist ein Mobilheim ein Muss. Daher besteht die Priorität einer Familie darin, für ein Tschum zu sparen, das die meiste Zeit des Jahres ihr Zuhause sein wird.

Im Jahr 2020 begannen die regionalen Behörden in Jamal, der wichtigsten Rentierzuchtregion Russlands, junge Familien auch beim Erwerb eines Tschum zu unterstützen. 

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