Moskau kämpft gegen den Verkehrskollaps

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WICTORIA RJABIKOWA
Was unternimmt die russische Hauptstadt gegen das Problem und warum funktionieren bisherige Konzepte nicht ausreichend?

„Die Straßen waren verlassen, wie in einem postapokalyptischen Film. Besonders gruselig war es im Zentrum von Moskau, wo alles Leben völlig zum Erliegen gekommen war“, beschreibt der Moskauer Taxifahrer Ruslan Seregin die Straßen in Moskau während der Coronavirus-Pandemie im Frühjahr 2020. Damals konnten sich Autofahrer nur mit einem besonderen digitalen Ausweis in Form eines QR-Codes fortbewegen. Diesen bekam man nach Registrierung und Angabe seines Reisezwecks über eine App oder Webseite.

Diese strikte Regulierung des Ausgangs dauerte vom 11. April bis zum 1. Juni 2020. Mit den ersten Lockerungen stieg auch die Zahl der Fahrzeuge auf Moskaus Straßen fast wieder auf das Niveau vor der Pandemie. Der Stau-Index von Yandex lag an diesem Tag bei 6/10.

Laut TomTom, einem Anbieter von GPS-Navigationsgeräten, standen Moskau und die umliegende Region Ende 2020 nach Anzahl der Staus weltweit an erster Stelle. Moskau war in den Top 10 der Städte mit den größten Staus des letzten Jahrzehnts vertreten und erreichte nur einmal einen 13.Platz, im Jahr 2015.

Straßenbau und Instandhaltungsmaßnahmen

Um Staus zu bekämpfen, baut Moskau jedes Jahr neue Autobahnen, Straßen und Verkehrsknotenpunkte, führt Instandhaltungsmaßnahmen durch und erweitert das alte Straßennetz jährlich um mindestens 100 Kilometer, so die Webseite des Moskauer Stadtentwicklungs- und Baukomplexes (MUDCC).

Infolgedessen sind der Anteil der überlasteten Straßenabschnitte in den letzten zehn Jahren um 18 Prozent und die durchschnittliche Reisezeit laut der Webseite um neun Minuten gesunken.

Von 2010 bis 2020 wurden in Moskau mehr als 1.000 Kilometer Straßen gebaut, um die Überlastung zu verhindern, erklärte der stellvertretende Bürgermeister von Moskau, Andrei Botschkarew, Ende 2020.

„Trotz der jährlichen Zunahme der Zahl der Autos um 250.000 bis 300.000 stieg unser gesamtes Verkehrsaufkommen nicht an, und Moskau war nicht mehr weltweit führend bei Verkehrsstaus. Unsere Bemühungen waren also nicht umsonst“, so Botschkarew.

Dennoch haben die andauernden Bau- und Reparaturmaßnahmen die Zahl der Staus in bestimmten Gebieten der Hautstadt erhöht, meinen Anwohner.

„Im Bezirk Medwedkowo, in dem ich wohne, werden viele Verkehrsknotenpunkte überarbeitet. Und egal, wo ich lang fahre, ich stecke immer im Stau. Früher habe ich 40 Minuten gebraucht, um mein Ziel zu erreichen, jetzt sind es anderthalb Stunden“, klagt der Fotograf Anton Uchanow.

Entwicklung des Öffentlichen Transportwesens

Die 36-jährige Moskauerin Waleria Daschkewitsch hat in den letzten fünf Jahren nur einmal öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Das war Anfang April 2021. Was sie dabei erlebte, waren überfüllte Züge und Busse, die auf blockierten Straßen feststeckten.  

„Ich dachte, ich wäre schneller als mit dem Auto, aber weil eine Straße gesperrt war und ich in einen anderen Bus umsteigen musste, hat es noch länger gedauert. Ich werde wohl lange keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nutzen“, sagt Daschkewitsch.

Das Moskauer Verkehrsministerium entwickelt das U-Bahn-System jedoch aktiv weiter. Laut der MUDCC-Webseite wurden seit 2011 in Moskau 56 neue Stationen eröffnet. Die neue Große Ringlinie wird ebenfalls gebaut. Sie soll laut der Webseite 31 Haltepunkte haben und die Fahrzeit auf 30 Minuten reduzieren.

Darüber hinaus sind in Moskau eine neue Verbindung ins Umland entstanden – die Ringbahnstrecke Moskowskoje zentralnoje kolzo, kurz MZK, sowie neue Stationen auf bestehenden Linien und die Moskauer Regionalbahnlinien(Moskowskije zentralnyje diametry, kurz MCD). Das System soll den Bewohnern der Region Moskau helfen, schnell in die Stadt zu gelangen und das Umsteigen erleichtern.

Neue Strecken werden auch für Straßenbahnen, Busse, Elektrobusse und Oberleitungsbusse gebaut - in Moskau gibt es mehr als 1.050 Überlandstrecken und mehr als 400 Kilometer Straßenbahnlinien, heißt es auf der Webseite des Bürgermeisters von Moskau.

In Moskau wurden weitere 351 Kilometer Fahrspuren für den öffentlichen Verkehr freigegeben. Aber einigen Moskowitern zufolge hat das keine positiven Auswirkungen auf die Zahl der Staus gehabt.

„Ich darf als Taxifahrer auch die Busspuren nutzen. Kürzlich kam ein Mann im Rentenalter im Stau auf mich zu und bat um Hilfe - seine Frau war krank und er konnte nicht ins Krankenhaus“, erinnert sich Fahrer Ruslan Seregin. „Das Krankenhaus war nicht weit, nur ein paar Meilen entfernt. Aber selbst über die Busspur brauchte ich 30 Minuten. Zum Glück haben wir das Krankenhaus rechtzeitig erreicht und die Frau konnte sich dort behandeln lassen.“

Andere Moskauer sind zurückhaltend in der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, weil sie Angst haben, sich mit Covid-19 anzustecken.

„Früher fuhr ich mit der U-Bahn ins Zentrum und zur Arbeit und mit dem Auto nur bei Ausflügen außerhalb der Stadt. Jetzt fahre ich überall mit dem Auto hin. Ich benutze die U-Bahn nur außerhalb der Stoßzeiten und selbst dann fühle ich mich noch unwohl. Überall sind zu viele Menschen, die husten“, berichtet der Moskauer Andrei Sobolew, 35.

Parkgebühren und Knöllchen

Um die Straßen von „überschüssigen Autos“ zu befreien und die Einwohner Moskaus zu zwingen, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, führte die Stadtregierung bereits 2012 ein kostenpflichtiges Parksystem ein. Die Parkkosten variieren zwischen 40 und 380 Rubel pro Stunde (etwa 0,44 bis vier Euro), abhängig von Standort und Parkdauer.

Autofahrer müssen mit einem Bußgeld von 5.000 Rubel (55 Euro) rechnen, wenn sie keinen Parkschein lösen. 3.000 Rubel (33 Euro) werden fällig, wenn auf einer Spur für öffentliche Verkehrsmittel gehalten wird.

Laut der offiziellen Moskauer Parkwebseite war im ersten Jahr der Einführung des Mautparkens (2012/ 2013) der Verkehrsfluss um zwölf Prozent schneller. Die Zahl der Fahrzeuge, die den Moskauer Gartenring, eine Ringstraße um das „Herz“ Moskaus, nutzten, ging um 25 Prozent zurück.

Viele Moskowiter sind wegen der drohenden Bußgelder und der hohen Parkgebühren auf den Nahverkehr umgestiegen. Aber auch Stus haben ihren Teil dazu beigetragen.

„Nach der Pandemie haben sich die Staus vervielfacht, und teure Parkplätze im Zentrum von Moskau sind nichts für mich. Jetzt benutze ich das Auto nur, um zur nächsten U-Bahnstation zu gelangen, und von dort fahre ich den Rest des Weges zur Arbeit. In letzter Zeit hat sogar die Fahrt von zu Hause zur U-Bahn eine Stunde gedauert. Ohne Stau schaffe ich die Strecke in 15 Minuten“, beklagt sich Anastasia, eine Einwohnerin von Podolsk, einer Stadt in der Nähe von Moskau.

„Verkehrsstaus sind gut“

Im November 2020 sagte der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin, dass nur schnelle öffentliche Verkehrsmittel die Moskauer motivieren würden, ihre Autos weniger zu benutzen und das Problem der Verkehrsstaus zu überwinden.

„Wir haben bereits Millionen von Autos in Moskau, und alle fünf Jahre kommen eine Million hinzu. Es gibt nicht genug Straßen für so viele Autos“, gab Sobjanin zu.

Trotz der noch steigenden Zahl an Privatwagen, tragen die in Moskau angewandten Maßnahmen zur Bekämpfung des Verkehrs dazu bei, die Nachfrage nach Privatfahrzeugen langsam zu senken, meint Alexander Kulakow, Direktor des Zentrums für Verkehrsmodellierung an der Fakultät für Stadt- und Regionalentwicklung der Hochschule für Wirtschaft in Moskau.

„Die in Moskau und Umgebung angewandten Methoden funktionieren. Sie bringen jedoch kurzfristig noch keine guten Ergebnisse, insbesondere unter Bedingungen, die nicht dazu beitragen, den Einsatz persönlicher Transportmittel zu reduzieren. Um den Stau in der Region weiter zu bekämpfen, müssen wir weiter daran arbeiten, die Konnektivität des Straßennetzes zu verbessern und ein Netz von öffentlichen Hochgeschwindigkeitsverkehrsmitteln aufzubauen“, empfiehlt Kulakow.

Ilja Warmalow, ein bekannter Blogger und Urbanist in Russland, stimmt der Notwendigkeit zu, den öffentlichen Verkehr auszubauen. Er ist jedoch dagegen, auch das Straßennetz weiterzuentwickeln. Er meint, neue Straßen würden die Moskowiter nur ermuntern, weiter Autos zu kaufen, wodurch noch mehr Staus entstehen würden.

Aus seiner Sicht sind Fahrer, die gegen die Verkehrsregeln verstoßen, was oft zu Unfällen führt, die Hauptverursacher von Verkehrsstaus.

„Sie können noch Hunderte neue Autobahnen auf dem neuesten Stand der Technik bauen, aber wenn einige Idioten weiterhin gegen die Regeln verstoßen, bleiben die Staus bestehen. In diesem Land gibt es keine richtige Fahrkultur. Was tun mit diesen Idioten? Das einzige Mittel ist, die Geldstrafen für rücksichtsloses Verhalten zu erhöhen. 5.000–10.000 Rubel, etwa 55 bis 110 Euro! “ schreibt Warmalow auf Instagram.

Laut Alexander Schumski, Leiter des Expertenzentrums Probok.Net, stiegen die Verkehrsstaus in Moskau jüngst nur deshalb so deutlich an, weil es dort als erstes Lockerungen gegeben habe. Dennoch sind weitere Maßnahmen erforderlich, um das Problem anzugehen.

„Wir müssen die Nachfrage nach Privatfahrzeugen reduzieren. Dies ist die nächste Stufe der Verkehrsentwicklung, die wir abschließen müssen. Wir haben gebührenpflichtige Parkplätze eingeführt, aber für die Fahrt nach Moskau oder in bestimmte Stadtteile fallen keine Gebühren an. Außerdem gibt es keine Einschränkungen oder Tarife, die auf der umweltfreundlichen Klassifizierung von Fahrzeugen oder Regionen beruhen“, erläutert Schumski.

Auf dem Telegramm-Account des Moskauer Verkehrsministeriums wurde mitgeteilt, dass die Überlastung der Straßen im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um fünf Prozent zurückgegangen sei. Die bloße Tatsache von Staus während der Pandemie sei kein negativer Indikator.

„Moskau ist weltweit führend in Bezug auf Staus, aber diesmal ist das eine gute Sache. Verkehrsstaus schienen immer ein schlechter Indikator zu sein. Im Corona-Jahr 2020 gilt jedoch das Gegenteil. Das bedeutet nämlich, dass die Stadt keine Pause eingelegt hat, die Straßen blieben offen und die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren, wenn auch unter strengen Auflagen, weiter“, hieß es dort.  

„Russia Beyond“ hat das Moskauer Verkehrsministerium um eine Stellungnahme gebeten, jedoch lag zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch keine Antwort vor.

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