E-Roller erfreuen sich in Russland zunehmender Beliebtheit, vor allem seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie: In nur einem Monat, von März bis April 2020, stiege die Nachfrage nach ihnen um 350 %, und bis Ende letzten Jahres hatten die Roller die Fahrräder auf dem Verleihmarkt überholt.
Ihre Popularität wurde jedoch bald zu ihrem eigenen Problem. Strafverfahren, Hausdurchsuchungen, Betriebsstopps, vorübergehende Verbote, „E-Roller freie Zonen“, der Unmut der Öffentlichkeit und sogar Auseinandersetzungen mit Schreckschusspistolen. Mit anderen Worten: Im Sommer 2021 waren die E-Roller eines der meistdiskutierten Themen in Russland. Und hier ist der Grund dafür.
„Ich war auf der Jakimanka-Straße unterwegs, als zwei oder drei von ihnen auf mich zurasten, und ich musste zur Seite springen, weil ich bei der Geschwindigkeit ihre Fahrmanöver nicht verstehen konnte. Man hat ja noch Glück, wenn sie einem entgegen fahren, aber wenn eine solche „Schönheit“ von hinten kommt, ist das der Horror. Du fängst an, unsere Gesetze zu verfluchen, oder vielmehr ihr Fehlen. In Moskau gibt es keine Rechte für Fußgänger, und das schon seit langer Zeit“, empörte sich Olga Wowikova, eine Moskauerin, auf Facebook.
Der erste russische E-Roller-Verleih, Dilisamokat, gibt es seit Sommer 2018 in Moskau. Die Eröffnung erfolgte in Anwesenheit des Bürgermeisters der Stadt, Sergej Sobjanin. Seitdem ist der Markt stetig gewachsen – die Liste der großen Anbieter in ganz Russland beläuft sich inzwischen auf fast zwei Dutzend. Und mit der Zahl der Verleihfirmen ist auch die Zahl der Zusammenstöße zwischen E-Rollern und Fußgängern gestiegen. Einige von ihnen endeten mit schweren Verletzungen, zum Teil mit tödlichen.
Der Solist des Mariinsky-Balletts David Salejew fuhr betrunken auf dem Bürgersteig, stieß mit einem Passanten zusammen und stürzte, woraufhin er mehr als zwei Wochen im Koma lag. Am 1. und 2. Juni wurden in verschiedenen Stadtteilen von St. Petersburg zwei vierjährige Jungen und ein fünfjähriges Mädchen von E-Rollern angefahren – die Kinder wurden ins Krankenhaus gebracht, zwei von ihnen in ernstem Zustand. Oder Maxim Molodschij, Angestellter des Kickshare-Dienstes E-motion, wurde in diesem Jahr selbst von einem E-Roller auf dem Bürgersteig angefahren: Er verlor fast sein Bein durch einen Sehnenabriss. „Der Ninebot-Roller wog 40 Kilogramm, der Fahrer 80 Kilogramm. Der Mann stürzte und brach sich den Schädel. Das ist im Allgemeinen die häufigste Verletzung mit einem E-Roller“, erzählt er.
Laut einer Statistik des Innenministeriums ereigneten sich in Russland in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 180 Unfälle mit E-Rollern, bei denen fünf Menschen ums Leben kamen.
Leise, schwer, teilweise technisch in der Lage, in wenigen Sekunden auf 30 km/h und sogar 50 km/h zu beschleunigen – der E-Roller ist in Russland zu einem gefürchteten Fahrzeug geworden. Ein weiterer Grund dafür: Selbst die Gesetzgebung Russlands weiß nicht, was sie dagegen tun soll.
Das Kicksharing, der Verleih von E-Rollern, ist in Russland nach wie vor nicht streng geregelt und hat auf föderaler Ebene keinen eindeutigen Rechtsstatus, obwohl die Notwendigkeit entsprechender Änderungen schon seit einigen Jahren diskutiert wird. Gegenwärtig wird diese Art der Beförderung den Fußgängern gleichgestellt, die ein Verkehrsmittel benutzen (d. h. Personen im Rollstuhl, mit Rollator oder auf Rollschuhen bzw. Inlineskates). Aus diesem Grund hat eine Person auf einem E-Roller das Recht, auf Bürgersteigen, Gehwegen und Radwegen zu fahren, und wenn es keine gibt, am Straßenrand, aber in Richtung des fließenden Verkehrs.
Dabei spielt es keine Rolle, ob man mit einem gemieteten oder seinem E-Roller unterwegs ist. Die Vermietungsstellen verlangen bei der Anmeldung außer einer Bankkarte keine weiteren Dokumente. Sie werden lediglich aufgefordert, Ihre Volljährigkeit nachzuweisen, indem Sie selbst das Kästchen Ich bin 18 ankreuzen. Wenn die Motorleistung weniger als 250 Watt beträgt, ist kein Führerschein erforderlich. Auch eine Schutzausrüstung ist nicht vorgeschrieben.
„Im Wesentlichen dreht sich die Kontroverse um E-Roller um den unklaren rechtlichen Status einer Person auf einem E-Roller“, stimmt Julia Kamojlik, Pressesprecherin des Kickshare-Unternehmens Whoosh, zu. „Nach der Straßenverkehrsordnung können sie als Fußgänger, als Fahrrad oder – bei leistungsstarken Modellen – als Moped eingestuft werden.
Die Ermittlungsbehörde schaltete sich ein und begann, das Problem mit Strafverfahren anzugehen.
Die Ermittlungsbehörde wurde Mitte Mai auf die E-Roller aufmerksam, nachdem junge Leute nachts auf dem Newski-Prospekt in St. Petersburg zweimal Fußgänger angefahren hatten. Die Verdächtigen wurden schnell ausfindig gemacht und einer von ihnen wegen Rowdytums, also einer groben Verletzung der öffentlichen Ordnung angeklagt. Ein zweites Strafverfahren wurde gegen Whoosh, eines der größten und erfolgreichsten Kicksharing-Unternehmen auf dem russischen Markt, wegen der Erbringung von Dienstleistungen, die nicht den Sicherheitsanforderungen entsprechen, eingeleitet.
Bereits am 3. Juni führten Ermittler in St. Petersburg Razzien in Büros und Lagern anderer Unternehmen durch, und die Durchsuchungen wurden im Laufe der Woche fortgesetzt. Am 7. Juni fanden erneut Durchsuchungen bei Whoosh statt, am 8. Juni bei Urent und Eleven und am 9. Juni bei Mangoo und Busyfly. Die Ermittler erstatteten sechs Strafanzeigen wegen fahrlässiger Körperverletzung und Rowdytum. Ähnliche Aktionen fanden kurz danach auch in anderen Teilen des Landes statt.
Am Morgen des 9. Juni stellten die Einwohner von St. Petersburg fest, dass sie über die Kickshare-Apps keine E-Roller mehr mieten konnten. Kirill Poljakow, Leiter des St. Petersburger Verkehrskomitees, erklärte gegenüber dem Projekt Podjom (Aufschwung), dass die Eigentümer des Kickshare-Dienstes die Roller aufgrund der Maßnahmen der Ermittlungsbehörde selbst von den Straßen entfernt hätten. Forbesschreibt jedoch unter Berufung auf eine Quelle in einer der Verleihfirmen, dass sie die E-Roller auf Wunsch des Untersuchungsausschusses entfernt haben: „Der Untersuchungsausschuss sagte gestern: Wenn Sie sie nicht wegräumen, werden wir es tun.“
Vorläufig versuchen die Vermieter selbst, mit den örtlichen Behörden über Geschwindigkeitsbegrenzungen, „langsame Zonen“ und „rote Zonen“ zu verhandeln, bis gemeinsame Vorschriften erlassen werden. Wie diese Regeln aussehen werden, ist noch nicht geklärt.
Die Öffentliche Kammer schlug vor, leistungsstarke E-Roller als Mopeds anzuerkennen, während die St. Petersburger Behörden vorschlugen, die Nutzer mit einem Pass zu registrieren und eine einheitliche Datenbank für Verkehrssünder einzurichten. Das Verkehrsministerium erwägt, die Geschwindigkeit auf Gehwegen auf 20 km/h zu begrenzen und ein Fahrverbot in Parks, in der Nähe von U-Bahn-Stationen, Bahnhöfen und Einkaufszentren einzuführen.
Die Gegner von E-Rollern werden dadurch nicht getröstet. „Wenn ich die Straße überquere, bin ich mir der Gefahr bewusst und muss aufpassen. Wenn ich im Stadtzentrum auf dem Bürgersteig gehe, sollte ich mich eigentlich nicht umsehen und auf ein Ar*******, das auf einem E-Roller mit 50 km/h auf mich zurast, achten müssen. Ich habe das Recht, auf dem Bürgersteig stehen zu bleiben und mich in mein Smartphone zu vertiefen“, schreibt der Nutzer Madegghead.
Dennoch sei es unfair, die Schuld auf die Kickshare-Unternehmen abzuwälzen, meint Igor Serkin, Leiter der Prozessabteilung der Anwaltskanzlei Cliff: „Es gibt keine festgelegten Sicherheitsanforderungen für Vermietungen. Diese gibt es für Lebensmittel und für spezielle Dienstleistungen wie Fahrgeschäfte auf Rummelplätzen. Doch welche Gefahren kann die Vermietung von Fahrzeugen mit sich bringen? Muss zum Beispiel die Autovermietung Ihre Fahrweise überwachen, wenn Sie ein Auto mieten? Nein! Sie muss Ihren Führerschein überprüfen. Im Falle des E-Rollers gibt es [bisher] keine solche rechtliche Regelung.“
Oft ist es eine Frage der fehlenden Infrastruktur, die das Problem lösen könnte. In einigen europäischen Ländern sind E-Roller nur auf Fahrradwegen erlaubt. Darüber äußert sich Alexander Osipow, Leiter der öffentlichen Bewegung Malyj elektrotransport Rossii (Kleine Elektrofahrzeuge Russlands): „Als Teil unserer Bewegung sind wir in allen größeren russischen Städten von Wladiwostok bis Kaliningrad mit E-Rollern gefahren und haben festgestellt, dass die Infrastruktur einfach nicht vorhanden ist. Selbst in Moskau und St. Petersburg ist sie unzureichend. Der Begriff Fahrradweg wird meist nur als Schimpfwort – Fahrradwege beginnen plötzlich und enden plötzlich, und die E-Roller müssen immer noch auf Bürgersteige und gefährliche Stellen ausweichen.
Aber wenn sie als Fahrzeuge anerkannt werden und sich auf der Fahrbahn bewegen müssen, jedoch auf Bürgersteigen und in Parks verboten sind, wird dies „das gesamte Verleihgeschäft zerstören“, glaubt Juri Nikolajew, Herausgeber von TrueSharing. Schließlich fahren die meisten Nutzer von E-Rollern nur aus Spaß.
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