Warum gibt es in Russland keine Privatsphäre?

Lifestyle
ALEXANDRA GUSEWA
„Wann bekommst du endlich Nachwuchs?“, „Du bist dick geworden!“, „Warum bist du noch nicht verheiratet?“ – in Russland werden viele Menschen fast täglich mehrmals mit der Verletzung ihrer Privatsphäre konfrontiert. Ist das ein Mangel an Erziehung oder eine kulturelle Besonderheit?

Eine alltägliche Situation in den Schlangen an den Supermarkt-Kassen: Trotz der Pandemie rückt Ihnen der Hintermann auf die Pelle oder schiebt Ihnen seinen Einkaufswagen in den Rücken. Oft kommt es auch zu einer Verletzung der Privatsphäre innerhalb der Familie, wenn Eltern oder Verwandte Sie mit Fragen löchern: „Wann heiratest Du endlich?“, „Wann bekommst Du endlich Nachwuchs?“ oder sie versuchen sogar, das Leben ihrer inzwischen erwachsenen Kinder zu beeinflussen – von der Berufs- und Partnerwahl bis hin zum Lebensstil.

Geboren in der UdSSR

In Russland gibt es einen berühmten Witz: „Warum können wir auf dem Roten Platz keinen Sex haben? – Weil uns die Sowjets quälen werden“. Sowjet bedeutet im Russischen (Arbeiter- und Bauern-)Rat, aber auch Ratschlag. Das Erbe des „Landes der Sowjets“ sind die unaufgeforderten Ratschläge, das Vermächtnis des Sozialismus ist, dass sich jeder um alles kümmert.

„Während der Sowjetära war die Kultur des Großteils der Bevölkerung – der Arbeiter und Bauern – dominant. Und was für diese Klassen typisch war, wurde zur Norm“, erklärt Natalia Tichonowa, leitende Wissenschaftlerin des Zentrums für die Erforschung sozialer Schichten an der Forschungsuniversität der Hochschule für Ökonomie. „Für sie war das Thema Einkommen und innerfamiliäre Beziehungen kein Tabu.“ 

Das Phänomen der Kommunalki, der sowjetischen Gemeinschaftswohnungen, nahm den Menschen vollständig die Möglichkeit, sich zurückzuziehen oder ihre Privatsphäre zu wahren. Nach der Revolution wurde die Nutzung der luxuriösen Wohnungen und Villen der Adligen und des reichen Bürgertums „intensiviert“ – in jedes Zimmer wurde eine Person oder sogar einer ganzen Familie einquartiert. Dies geschah im Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit, allerdings waren nun Bad, Toilette und Küche der Wohnung Gemeinschaftsräume.

Als viele Menschen und Familien in den Fünfzigerjahren eine eigene Wohnungen bekamen, war jeder mit einer kleinen und bescheiden, aber separaten Wohnung zufrieden.

Auch gab es in der UdSSR eine Form der sozialen Kontrolle: Untreuen oder trunksüchtigen Männern oder auch Frauen konnte leicht am Arbeitsplatz der Prozess durch das „Genossengericht“ gemacht oder sie konnten aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen werden. Wer in der Schule oder an der Universität schlechte abschnitt, bekam zwangsweise einen erfolgreichen Mitschüler oder Kommilitonen als „Paten“ zugewiesen.

Das Ergebnis der jahrelangen und in allen Lebensbereichen vorgenommenen Eingriffe in die Privatsphäre war, dass es so etwas wie eine Privatsphäre fast nicht mehr gab. Dies ist auch heute noch – wenn auch im geringeren Maße – der Fall.

Das Wort Privatsphäre gibt es im Russischen nicht

„Ich werde es nicht vermissen, dass die Leute in der Schlange in der Apotheke einem über die Schulter schauen und fragen: ,Warum kaufen Sie so teure Medikamente?ʻ (im Russischen gibt es kein Wort für Privatsphäre)“, schrieb die amerikanische Journalistin Julia Joffe, als sie nach einem mehrjährigen Russlandaufenthalt in die USA zurückkehrte.

Der Begriff Privatsphäre bezeichnet laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts den nichtöffentlichen Bereich, in dem ein Mensch unbehelligt von äußeren Einflüssen sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnimmt, was einschließt, das Eindringen von Außenstehenden in diesen Bereich zu vermeiden. Im Russischen gibt es kein Wort, das diesen Begriff treffend wiedergeben könnte – er wird mit drei Wörtern übersetzt: неприкосновенность частной жизни (neprikosnowénnostj tschástnoj schísni), also Unberührbarkeit des Privatlebens.

Die Linguistin Tatjana Larina schlägt als Äquivalent das Konzept der „persönlichen Autonomie“ vor. Dieses Recht auf Privatsphäre wurde in England bereits im 16. Jahrhundert mit der Redensart My home is my castle auf den Punkt gebracht und entspricht am ehesten dem deutschen Daheim bin ich König. In der russischen Kultur ist dieser Gedanke jedoch nicht sehr verbreitet, da der Begriff der Privatsphäre in Russland oft nur Juristen bekannt ist.

Mangelnder Respekt vor dem persönlichen Raum

Trotz der Pandemie wird die soziale Distanz von vielen Menschen in Russland nicht respektiert. Dies ist häufig in Warteschlangen der Fall, in denen vor allem ältere Menschen sich dicht an die vor ihnen Stehenden drängeln.

„Kürzlich habe ich eine Frau gebeten, Abstand zu halten, aber sie hat mich daraufhin nur  wütend angefaucht“, berichtet Jelena, eine Buchhalterin aus Moskau. „Viele Menschen, die offenbar noch aus der Sowjetzeit stammen, fürchten offenbar, dass sich zwangsläufig jemand in die Schlange hinein drängelt, wenn man mehr als einen Meter von seinem Vordermann entfernt steht. Mit den Autofahrern im Straßenverkehr ist es dasselbe.

Eine weitere Herausforderung für datenschutzsensible Menschen sind öffentliche Verkehrsmittel. Zur Hauptverkehrszeit ist jede U-Bahn der Welt überfüllt, alle stehen dicht gedrängt beieinander und fühlen sich gleich (eingeengt).

Aber auch in solchen Situationen ist es möglich, einige Regeln des Taktes zu beachten. „Einmal saß ich in der U-Bahn und bekam die große, nicht ganz saubere Tasche einer neben mir stehenden Frau ins Gesicht. Ich bat die Frau, besser auf ihre Tasche zu achten, woraufhin sie in eine wütende Tirade ausbrach, dass sie die Tasche nirgendwo abstellen könne und dass ich, wenn es mir hier nicht gefalle, mit meinem eigenen Auto fahren solle und ich hier schließlich nicht allein sei…“, erinnert sich Alexandra, eine Rentnerin aus Moskau.

Ausländer sind schockiert

Während Russen im Allgemeinen an die Verletzung ihres persönlichen Raums gewöhnt sind, sind Ausländer in Russland manchmal tatsächlich schockiert über das, was sie als taktloses Verhalten empfinden. Lucia aus Italien hat mehrere Jahre in Russland gelebt und ist mehr als einmal mit dieser Situation konfrontiert worden. Die Leiterin des Wohnheims, in dem Lucia während ihres Studiums an der Universität für Geisteswissenschaften wohnte, kam ohne Vorwarnung oder Klopfen in ihr Zimmer und erwischte sie entweder im Handtuch oder im Schlafanzug – ohne dass es ihr peinlich gewesen wäre. „Meine Freunde erklärten mir, dass dies Teil der Mentalität aus Sowjetzeiten sei, als es das Konzept der Privatsphäre noch nicht gab“, erzählt Lucia.

Auch der Franzose Erwann hat in verschiedenen russischen Städten gewohnt und diese „kulturelle Eigenart“ der Russen mehr als einmal erlebt, so dass er nicht mehr überrascht ist. Das eindrucksvollste Erlebnis hatte er in Nischnij Nowgorod: Erwann studierte dort ein Jahr lang und mietete eine Wohnung in der Nähe der Universität. Der Vermieter behandelte ihn von Anfang an wie einen Sohn. Und auf väterliche Weise kam er jeden Sonntagmorgen früh und unangemeldet zu ihm und konnte den ganzen Tag dort herumsitzen und reden. In Frankreich werde ein Besuch zumindest angekündigt und Treffen meist im Voraus vereinbart.

Ein unvermeidlicher Test für Ausländer sind auch persönliche Fragen von Fremden. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich in der ersten Minute der Begegnung gefragt wurde: 'Sind Sie verheiratet?ʻ“, lacht Erwann. Lucia war anfangs genervt von den allzu persönlichen Fragen fremder Leute – wie viel sie verdiene, ob sie heiratet sei und Kinder habe wolle. Aber schließlich gewöhnte sich die Italienerin daran und war nicht mehr überrascht oder verlegen.

„Ja, in Russland kann es sein, dass sogar Ärzte keine Grenzen spüren. Ihr Gynäkologe wird Sie auf jeden Fall fragen, wann Sie Kinder planen. Und wenn Sie antworten, dass Sie keine planen, wird er bestimmt fragen, warum“, sagt die Russin Maria, die in Amerika aufgewachsen ist und in vielen Ländern gelebt hat. Sie rät jedoch, dies nicht als schlechte Eigenschaft oder einen Mangel an guter Erziehung zu betrachten. „Die Russen sind im Allgemeinen interessiert, aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie wollen Ihren persönlichen Raum nicht verletzen oder jemanden in Verlegenheit bringen. Das ist so eine Art nationaler Charakterzug oder so. Ich habe gelernt, es nicht persönlich zu nehmen.“

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