Die russische Trainerin, die den Eiskunstlauf in höhere Sphären hob

Wladimir Pesnja/Sputnik
Eteri Tutberidse ist die Frau hinter einer Reihe von Meistertiteln und eine unbeugsame Kämpferin. Sie selbst musste den Sport wegen einer Verletzung aufgeben, doch als Trainerin kehrte sie triumphierend zurück.

"An diesem Morgen ging ich nach unten, um mir das Gesicht zu waschen und schaute auf die Uhr – neun Uhr und vier Minuten. Da gab es eine Explosion. Ein schrecklicher Aufprall, danach erst tödliche Stille und dann unmenschliche Schreie. Ich weiß nicht, wie ich ganz allein nach draußen kam, aber ich schaffte es. Es muss nur sehr lange gedauert haben. Die Wände waren zerrissen, die Leute schrien vor Angst vor einer zweiten Bombe und rannten weg. Ich stand einfach da und hatte nur Badelatschen, ein Handtuch und eine Zahnbürste bei mir. Ein Feuerwehrmann kam angerannt, packte mich an der Hand und schleppte mich mit. Einen halben Tag lang irrte ich wie im Delirium hinter ihm her, während er die zerstörten Räume untersuchte. Alle Russen in unserer Ballettkompanie wurden zu amerikanischen Familien geschickt, mein Partner Kolja Apter und ich kamen zu diesem Feuerwehrmann. Als Opfer eines Terroranschlags erhielten wir jeweils 1.200 Dollar. Wir kauften ein kaputtes Auto, reparierten es mithilfe des Feuerwehrmannes und fuhren nach Cincinnati." So erinnert sich Eteri Tutberidse an den Tag des Bombenanschlags in Oklahoma City.

Nachwirkungen des Bombenanschlags auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City am 19. April 1995.

Damals, 1995, war Eteri Tutberidse eine 20-jährige russische Eiskunstläuferin ohne Titel, Siege oder gar internationalem Ruhm. Durch eine Rückenverletzung sah sie sich gezwungen, ihre sportliche Karriere zu beenden. Stattdessen reiste sie mit dem Ensemble "Russian Ballet on Ice" in die USA. Aufgrund bürokratischer Verzögerungen wurde der Vertrag jedoch aufgelöst und die gesamte Truppe stand vor dem Nichts. Eteri musste in einem Schlafsaal auf dem Boden schlafen und bei der Tafel essen. Am Tag des Anschlags befand sie sich im YMCA-Schlafsaal, der sich gegenüber dem Gebäude befand, welches der Terrorist in die Luft sprengte.

Das ramponierte Auto, das Eteri und ihr Eisballettpartner Kolya mit ihrer Entschädigung für den Terroranschlag gekauft hatten, half ihr, sich in den ersten Jahren in den Vereinigten Staaten über Wasser zu halten. Vier Jahre lang tourte sie durch die USA und beteiligte sich gelegentlich an Shows, bevor sie sich in San Antonio, Texas, niederließ. Dort sammelte Eteri ihre ersten Erfahrungen als Trainerin. Ihre Schüler reichten von ambitionierten Sportlern bis hin zu Leuten, die das Eislaufen als reinen Zeitvertreib betrachteten. Niemand ahnte damals, dass Eteri den Eiskunstlaufsport einmal revolutionieren würde. 

Der amerikanische Traum in Russland

Eteri Tutberidse in 2011.

"Als ich vier Jahre alt war, kamen Verwandte aus Georgien zu Besuch", erinnert sich Eteri. "Jemand fragte meinen Vater: 'Wie viele Kinder habt ihr?' Und er sagte: 'Einen Sohn.' Ich klopfte ihm auf die Schulter und sagte: 'Papa, wir sind fünf. Er antworte nur: 'Hau ab!' Als der Besuch weg war, fragte ich ihm, warum er das gesagt hatte. Er antwortete: 'Mein Sohn wird den Nachnamen Tutberidse tragen. Ihr seid Mädchen, ihr zählt nicht.' Seitdem wollte ich ihm immer beweisen, dass auch Mädchen und Frauen erfolgreich sein können!"

Schon ihn ihrer Kindheit träumte sie davon, nach Amerika zu gehen und dort reich und berühmt zu werden. Nach ein paar Jahren in den USA beschloss sie jedoch, nach Russland zurückzukehren und noch einmal ganz von vorne anzufangen.

Auch das Leben in der neuen, alten Heimat begann für Eteri mit Schwierigkeiten. Sie fand zunächst keinen geeigneten Job und verdiente ihr Geld damit, Gesundheitsgruppen zu trainieren. Erst nach zehn Jahren wendete sich das Blatt.  

Julia Lipnitskaja (v.l) und ihr Trainer Eteri Tutberidse (v.r) im Jahr 2014.

2008 fand sie eine Anstellung als Trainerin in der legendären Moskauer Eislaufhalle. Schon in der nächsten Saison feierte mit Polina Schelepen eine ihrer Schülerinnen erste ernsthafte Erfolge auf Juniorenebene. Zu Weltruhm gelangte schließlich ihre Schülerin Julia Lipnitskaja, die bei der Heim-Olympiade in Sotschi 2014 eine Goldmedaille im Teamwettbewerb errang. „Das Mädchen im roten Mantel", wie Julia von den ausländischen Fans genannt wurde, wurde zu einem der Stars der Olympischen Spiele und zierte sogar die Titelseite des Time Magazine. Auch Eteri selbst erhielt zum ersten Mal größere Aufmerksamkeit in der Presse.

Auf Lipnitskaja folgte Jewgenija Medwedewa, die in zwei Saisons keinen einzigen Start verlor. Bei den Olympischen Spielen in Pjeongchang 2018 stahl ihr jedoch Alina Zagitowa, eine andere Schülerin Tutberidses, die Goldmedaille. In der darauffolgenden Saison gewann Zagitowa die Weltmeisterschaften und wurde somit zur höchstdekorierten Eiskunstläuferin ihrer Zeit. 

Auch in den Juniorenwettbewerben dominieren Eteris Schülerinnen weiterhin. Hauptsächlich zu nennen sind hier Alexandra Trusowa, Anna Schtscherbakowa und Alena Kostornaja, die bereits jetzt neue Standards setzen. Der Vierfach- und Dreifach-Axel, einst die Kunst der Auserwählten, ist in der heutigen Zeit zu einer dringenden Notwendigkeit geworden.

Tutberidses Strategien für den Sieg 

Julia Lipnitskaja auf dem Cover von Time.

Wie ist es einer alleinerziehenden Mutter ohne Geld und Gönner gelungen, in nur zehn Jahren zu einer der Legenden unter den russischen Eiskunstlauftrainerinnen zu werden? Eteris Geheimnis besteht darin, den Wettbewerb zwischen ihren Schülern zu fördern, sie zu harter Arbeit anzutreiben und gleichzeitig Chancengleichheit für alle zu gewährleisten. 

Trainer Eteri Tutberidse, Daniil Gleikhengauz und Skaterin Anna Tschcherbakowa im Jahr 2021.

Tutberidses Regeln sind streng. Ihre Schülerinnen müssen selbst an schlechten Tagen immer alles geben: Auf dem Eis, in der Choreographie, beim Stretching und selbst im Fitnessstudio. Eine Sonderbehandlung brauchen auch hochdekorierte Champions nicht zu erwarten, sagt Tutberidse. „Der einzige Weg, um weiterzukommen, ist derselbe Weg, den ihr bei euren früheren Medaillenkämpfen gegangen seid: Unerträglich harte Arbeit. Wenn ihr das Podium verlasst, seid ihr wieder ein Niemand, bis ihr beim nächsten Mal das Gegenteil beweist. Medaillen in der Vergangenheit helfen dir in der Zukunft nicht.“ predigt sie ihren Schülerinnen. Mit Erfolg: Viele von ihnen haben nicht nur Medaillen und Titel gewonnen, sondern auch lukrative Sponsorenverträge. Besonders lang waren die Karrieren von Eteris Schülerinnen bisher jedoch selten. Ihre Konkurrenten werfen ihr deshalb ein "Fließband"-System zur Produktion von Sportlerinnen vor.

Dennoch hat jede ihrer Sportlerinnen einen individuellen Stil, auch wenn es natürlich Ähnlichkeiten gibt (z. B. bei den Kostümen und einigen Details der Choreografie).

Wird der „Napoleon des Eiskunstlaufs“ besiegt?

Julia Lipnitskaja Russlands erhält einige Ratschläge von ihrem Trainer Eteri Tutberidse vor der Damen-Kür-Veranstaltung der ISU Europameisterschaften im Eiskunstlauf 2014 statt im Stadion Syma Hall am 17. Januar 2014 in Budapest, Ungarn.

Ein Fan-Liebling ist Tutberidse allerdings bis heute nicht. Sie wirkt arrogant und narzisstisch, ist unhöflich gegenüber der Presse, antwortet in der Regel barsch auf Kritik und ist eifersüchtig, wenn ihre Athleten zu anderen Trainern wechseln. Ihre eleganten Louis Vuitton-Mäntel sind zum Stadtgespräch geworden. Ihrer Karriere tat das bisher allerdings keinen Abbruch: Nach dem Damen- und Herreneinzel ist sie nun dabei, auch den Paarlauf zu erobern.

Ihre Trainerkollegen betrachten ihre Erfolge teils mit Argwohn. Eteris Schüler belegen alle Podestplätze und lassen keinen Platz für andere Läufer. Das Ausbleiben von Ergebnissen wirkt sich dann wiederum negativ auf die Finanzierung und das Ansehen der Sportschulen aus.

Goldmedaillengewinnerin Alina Sagitowa (v.l) und Silbermedaillengewinnerin Ewgenia Medwedewa (v.r) feiern mit Coach Eteri Tutberidse (Mitte) am 14. Tag der Olympischen Winterspiele 2018 in PyeongChang in der Gangneung Ice Arena am 23. Februar 2018 in Gangneung, Südkorea.

Die bevorstehende Anhebung der Altersgrenze für die Teilnahme an Wettbewerben für Erwachsene erscheint einigen als Ausweg, wird aber an den Machtverhältnissen im russischen Eiskunstlauf so schnell nichts ändern: Trusowa und Scherbakowa haben bewiesen, dass man auch nach der Pubertät noch Quads (Eiskunstlaufsprung mit mindestens vier Umdrehungen, Anm. d. Red.) vollführen kann. Die rebellische Kostornaja hat mit 18 Jahren den Dreifach-Axel wiederholt. Und Medwedewa, die von Brian Orser zurückgekehrt war, hatte ernsthaft vor, am vierfachen Salchow zu arbeiten. Nur eine Verletzung verhinderte ihre Rückkehr.

Und selbst wenn Eteri irgendwann aufhört, wird ihr Erbe nicht mehr aus der Welt des Eiskunstlaufs wegzudenken sein.

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