Jahrhunderte lang hatten die Russen zwei Namen. Der eine wurde nach der Geburt vergeben, der andere bei der orthodoxen Taufe. Der erste war ein amtlicher Name - der Name, mit dem eine Person im weltlichen Leben und in offiziellen Dokumenten genannt wurde. Der zweite, der Taufname, war vertraulicher, eine Art geheimer Name, den nur Gott kannte. Mit diesem Namen „kommunizierte“ Gott mit einer Person während des Gebets und des religiösen Lebens.
Im alten Russland feierten die Menschen keine Geburtstage. Sie feierten dafür ihren sogenannten Namenstag, der ihrem Schutzpatron gewidmet war (wobei ein heiliger Name unter Umständen mehrmals im Jahr gefeiert werden konnten).
Während der Taufe in der Kirche St. Seraphim von Sarow.
Donat Sorokin/TASSDie wichtigste Regel bei der Wahl eines Namens war der Blick in den Kalender der orthodoxen Kirche, um zu sehen, welcher Heilige an einem bestimmten Datum gefeiert wurde. Man glaubte, dass er/sie der/die Schutzpatron/in des Kindes wurde. Deshalb prüfte der Priester bei der Taufe den Kalender und gab dem Kind einen neuen Namen, der mit diesem Datum übereinstimmte.
In der Aristokratie war es üblich, den Familiennamen als weltlichen Namen zu verwenden. Diese Regel befolgten die mittelalterlichen Rurikiden und auch noch die ersten Romanows im späten 16. Jahrhundert. Vor der Herrschaft Peters des Großen (und seiner Hinwendung zu europäischen Sitten und Gebräuchen) wurden häufig sowohl weltliche als auch kirchliche Namen verwendet, insbesondere weil die Kirche für die Registrierung von Geburten und Todesfällen zuständig war.
„In den historischen Quellen findet sich der Gebrauch von zwei christlichen Namen nicht nur bei Angehörigen der Aristokratie, sondern auch beim niederen Adel oder sogar bei Beamten, Kaufleuten, Handwerkern, Bauern und Leibeigenen, Witwen und Mägden, kleinen Kindern und Älteren“, schreiben die Wissenschaftler Anna Litwina und Fjodor Uspenskij in ihrer Studie über die Tradition der russischen christlichen Doppelnamen.
Peter der Große veränderte die Tradition der Doppelnamen und führte eine größere Namensvielfalt ein, wobei er sich europäischen Gepflogenheiten anpasste. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist, dass die Söhne von Peters bestem Freund, Alexander Menschikow, Peter-Luka und Pawel-Samson hießen.
Ab dem späten 17. Jahrhundert verlor dieser Brauch jedoch an Bedeutung, und seit der Regentschaft von Zar Alexander und seinem Sohn Peter dem Großen benutzten die russischen Herrscher ihren zweiten Namen nicht mehr. Gleichzeitig wanderten zahlreiche Ausländer nach Russland ein und konvertierten zum orthodoxen Christentum, wobei sie neue und manchmal ungewöhnliche Namen annahmen.
Peter der Große ist zusammen mit seiner Frau Katharina, seinen drei Töchtern Anna, Elisabeth (der späteren Kaiserin) und Natalia sowie seinem Enkel Peter (dem späteren Peter II.) abgebildet.
Public domainDer Geburtsname der Frau Peters des Großen, der Zarin Katharina I., war Marta Skawronskaja. Katharina die Große wurde als Sophie geboren. Peter wiederum nannte seine Töchter Elisaweta und Anna, Namen, die zuvor in der Romanow-Dynastie nicht verwendet wurden (und in Russland nicht sehr bekannt waren).
Alte Namen wie Iwan und Wassilij, die unter den Zaren üblich waren, waren in der Herrscherfamilie nicht mehr beliebt, und ab dem 18. Jahrhundert setzte sich ein Trend zu den Namen Peter (drei Zaren), Alexander (drei Zaren) und Nikolaus (zwei Zaren) durch. Diese Namen setzten sich schließlich auch im einfachen Volk durch.
Die Oktoberrevolution von 1917 stellte das Land auf den Kopf, und die Veränderungen betrafen auch die Traditionen und Trends bei der Namenswahl. Im Rahmen der antireligiösen Kampagne der Sowjetunion wurde die Verbindung zwischen den Namen und dem Kirchenkalender aufgehoben, wobei einige Gläubige diese auch weiterhin im Geheimen pflegten, ohne den religiösen Namenstag offen zu feiern.
Neue Namen schienen besser zur neuen sowjetischen Kultur zu passen. Zunächst stieg die Zahl der Wladimirs (nach Wladimir Lenin benannt) sprunghaft an. Von 1932 bis 1950 war Wladimir einer der beliebtesten männlichen Namen. Gleichzeitig erschienen einige Abwandlungen von „Wladimir Lenin“. Kinder wurden Wilen (W.I. Lenin), WLadlen (weiblich Wladlena) und Ninel (Lenin rückwärts buchstabiert) genannt.
Es gab auch eine Reihe anderer revolutionärer Namen, von denen einige recht kreativ, andere aber auch seltsam waren. So gab es beispielsweise den seltenen, aber sehr sowjetischen Namen „Dasdraperma“, eine Kurzform von „Da Sdrawstwujet Perwoje Maja“ - Ruhm dem Ersten Mai (Tag der Arbeit). „Stalik“, „Staliw“ und „Stalen“ waren Namen, die auf Stalin zurückgehen. Und der Name „Mels“ wurde aus den Anfangsbuchstaben von Marx, Engels, Lenin und Stalin gebildet.
Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, 1910.
Public domainKinder wurden auch zu Ehren ausländischer Kommunisten benannt: Mädchen hießen oft Rosa und Klara (nach Rosa Luxemburg und Klara Zetkin) und Jungen - Karl und Ernst (nach Karl Marx und Ernst Thälman).
Nach 1961 und dem Weltraumflug von Juri Gagarin wurde der Name Juri unglaublich populär, gefolgt von Walentina, zu Ehren von Walentina Tereschkowa, der ersten Frau im Weltraum.
Alexej, Alexander, Anatolij, Andrej, Wassilij, Jewgenij, Nikolai - alle diese russischen Namen haben griechische Ursprünge. Selbst Iwan ist eine Form des altgriechischen Namens „Ioann“ (Johannes). Die russisch-orthodoxe Kirche entlehnte Namen aus der byzantinischen griechischen Kirche, und so wurden die Menschen nach griechischen Heiligen benannt.
Erst als einheimische russische Heilige mit echten russischen Namen auftauchten (Olga, Wladimir, Boris und Gleb), verbreiteten sich diese im ganzen Land.
Eine der ältesten Ikonen, die die Heiligen Boris und Gleb darstellen.
Public domainManche Menschen achten jedoch immer noch auf die Namen im Kirchenkalender. „Als ich über den Namen meiner Tochter nachdachte, schaute ich im Kalender nach, welcher Heilige an ihrem Geburtsdatum gefeiert wird, und da gab es keinen weiblichen Namen. Also habe ich einen Namen ausgesucht, der mir gefiel, und wir haben einfach ein anderes Datum ausgewählt, das zu diesem Heiligen passt“, sagt die 33-jährige Jelena.
Dennoch wählen viele Menschen Namen nach persönlichen Vorlieben oder folgen der Tradition, ihre Kinder nach Großeltern und Verwandten zu benennen. „Ich heiße Sergej, und mein Vater hieß Boris, mein Großvater Sergej. Ich wollte meinen Sohn ebenfalls Boris nennen, aber meine Frau mochte den Namen nicht, also wählte ich Anton, den Namen meines Urgroßvaters. Mein Sohn beschloss, sich nicht an diese Tradition zu halten, und sie nannten ihren Sohn zu Ehren des Großvaters seiner Frau“, erzählt der 63-jährige Sergej.
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