Der Flohmarkt an der U-Bahn-Station „Udelnaja“ ist an einem Sonntag rappelvoll. Unter den müßigen und neugierigen Touristen tummeln sich Menschen, die offensichtlich wissen, was sie suchen – in der Regel Innenarchitekten, Händler oder „professionelle“ Sammler. Manche zögern nicht, mit den Verkäufern zu feilschen und den halben Preis zu verlangen – „als Mengenrabatt“.
Es gibt auch diejenigen, die ihre eigenen Waren zum Verkauf mitbringen. Vor meinen Augen zieht ein junger Mann eine zerschrammte Kuckucksuhr aus seinem Rucksack. Es gelingt mir, auf dem Zifferblatt das Herstellungsjahr – 189... – zu erkennen. Der gelangweilte Ladenbesitzer wird plötzlich munter und er beginnt mit dem jungen Mann angeregt über den Preis der Rarität zu verhandeln.
Im Jahr 2012 wurde dieser St. Petersburger Flohmarkt vom russischen Magazin „Forbes“ zum zweitbesten Flohmarkt der Welt gekürt. Und der britische „Guardian“ listete ihn 2016 als eine der besten „sowjetischen“ Sehenswürdigkeiten von St. Petersburg. Auf den ersten Blick scheint der „Udelka“-Markt eine echte Zeitmaschine zu sein, die Sie in die Realität der postsowjetischen Epoche der frühen 90er Jahre zurückführt. Hier finden Sie Trödelstände und Verkaufsflächen, auf denen der Schrott auf dem Boden herumliegt.
Eine Reise in die Vergangenheit
Die Wohnung der Oma wird entrümpelt und das Geschirr und die Bücher aus der Sowjetzeit sollen „versilbert“ werden? Alte sowjetische Landkarten, die sich hinter dem Schrank im Erdkunderaum der Schule stapeln? „Schatzsucher“ haben deutsche Helme aus dem Zweiten Weltkrieg in den Sümpfen der Region Leningrad gefunden? Auf dem Dachboden der Datscha wurde ein altes Exemplar der Zeitung „Leningradskaja prawda“ von 1986 gefunden? Ein Großvater aus dem Krieg hinterließ eine Trophäenuhr und ein Fernglas als Erbe? Alles das scheint früher oder später auf dem „Udelka“-Markt zu landen.
Man hat ein mulmiges Gefühl, wenn man zwischen den Ständen mit den Schüsseln und Töpfen umherwandert, aus denen sich drei oder vier Generationen sowjetischer Familie ernährt haben. Vor allem, wenn man sich die „guten Stücke“ anschaut: eine Porzellantasse, aus der nur ein paar Mal im Jahr Tee getrunken wurde – am Tag des Sieges, am 9. Mai und zu Silvester. Meine Großmutter benutzte sie nur für große Feste. Wie sich herausstellt, gibt es hier jede Menge sentimentaler Kunden.
„Sagen Sie mir, was kostet die Porzellanfigur dort drüben? Ich hatte früher zwei, aber meine Enkelin zerbrach ein davon, als sie klein war. Sie ist jetzt 25, lebt in Deutschland und ist sehr geschäftstüchtig geworden. Ich habe sie damals verprügelt, als sie fünf Jahre alt war, weil das Defizitware war. Mein verstorbener Großvater hatte sie dank seiner Beziehungen bekommen. Im Laden war so etwas nicht zu finden“, seufzt die alte Dame neben mir und erzählt mir und der Verkäuferin, wie wertvoll die Porzellanfigur für sie war. Früher hatte jede sowjetische Hausfrau ein solches Exemplar im Schrank stehen, aber inzwischen ist das Vintage-Kunst, die etwas mehr als 100 Dollar pro Figur kostet.
Wie teuer sind die Waren?
Die Grundsätze der Preisgestaltung auf dem „Udelka“-Markt sind ein Rätsel für sich. Man sollte meinen, dass Abzeichen, sowjetische Münzen und Banknoten, die jedes Sammlerherz höher schlagen lassen, eine ordentliche Stange Geld kosten, aber man bekommt sie hier fast hinterher geworfen. Glänzender Kitsch mit Lenin-Porträt oder den olympischen Ringen [in Moskau fanden 1980 die Olympischen Spiele statt – Anm. d. Red.] stehen in jedem dritten Regal.
Etwas interessantere Dinge kann man bereits für weniger als tausend Rubel (etwa 17 Euro) kaufen. Aus Neugierde fragte ich den Verkäufer, wie viel ein mit echtem Leder bezogenes französisches Theaterfernglas wert sei. Es sieht deutlich mehr als hundert Jahre alt aus. Fünfzehn Dollar? Das ist ja ein wahres Schnäppchen! Und ein guter Anlass, das Mariinski-Theater zu besuchen.
Je tiefer man in den Markt eintaucht, desto spartanischer die Handelsbedingungen. In der hintersten Ecke des „Udelka“-Marktes machen sich die Verkäufer keine große Mühe und legen die Waren einfach auf dem Boden aus. Hier gibt es alles, was das Herz begehrt: hässliche Grusel-Plastikpuppen, alte Koffer, rostige Samoware und verblichene Lenin-Porträts aus dem Müll. Abgewetzte, nicht sehr saubere Teppiche hängen am Zaun. Ich frage mich, wie lange sie hier schon auf einen Käufer warten.
Plötzlich verwandelt sich das Gelände mit seiner Ramtschsammlung in eine ansehnliche Einkaufsstraße. Sie ist ein wahres Refugium für Antiquitäten: Die Verkaufsräume sind geräumig und geschmackvoll eingerichtet, an den Wänden hängen interessante Gemälde, die Vitrinen sind mit Samt bezogen, Kristall und Silber sind poliert. Es gibt hier wesentlich weniger Besucher - die Preise bewegen sich in einer anderen Größenordnung.
„Dies ist ein Kutschenspiegel. Frankreich, 18. Jahrhundert“, erklärt der Ladenbesitzer, der mein Interesse an dem eleganten Ding bemerkt.. „Es kostet 1200 Dollar.“
Ich glaube, dass man tatsächlich nichts Vergleichbares auf dem „Udelka“-Markt finden wird!
„Und wo haben Sie den her?“
„Von meinen Zulieferern! Ich bin schon lange in diesem Geschäft. Ich habe ein Antiquitätengeschäft im Stadtzentrum und hier bin ich sonntags mehr für die Seele.“
Ich bin der einzige Kunde in dem Antiquitätengeschäft. Jetzt verstehe ich, warum der Besitzer so locker ist. Und so bleibt genug Zeit, um über die interessantesten „Exponate“ zu plaudern.
„Da oben hängen Zeichnungen: Sie stammt von der Akademie der Schönen Künste. Das sind Skizzen von Studenten. Vielleicht stammen sie ja von Repin höchstpersönlich – sie sind wirklich sehr gut!“, fährt der Ladenbesitzer fort.
„Ich nehme an, dass vor Covid viele ausländische Besucher hierher kamen, nicht wahr?“
„Ja, natürlich! Ich hatte einmal eine ganze Delegation chinesischer Diplomaten, die haben eine chinesische Vase gekauft. Eine so große Vase, über einen Meter hoch! Als Geschenk, sagten sie. Davon haben sie bei sich zu Hause keine mehr – die sind alle ins Ausland verscherbelt worden.“
In den benachbarten Läden war das Warenangebot nicht so originell: vor allem Porzellangeschirr (ich erkannte Teller von „Villeroy & Boch“), Eisenwaren, Büsten des allgegenwärtigen Lenin... Plötzlich erblicke ich ein Schaufenster mit Stichwaffen. „Nicht berühren!“ warnt ein Schild am Eingang. Drinnen diskutieren die Verkäufer gelangweilt über die Sportnachrichten. Am Eingang stehen ein paar junge Chinesinnen. Sie zögern einzutreten, zeigen aber amüsiert auf die Klingen und schießen Selfies mit ihren Handys.
Dann drehen sich die jungen Frauen um und verlieren augenblicklich das Interesse an den Jagdartikeln, denn vor ihnen befindet sich ein Laden, in dem Puppen aus Ostasien ausgestellt sind. Die chinesischen Frauen stürmen darauf zu.
Die Auswahl ausländischer Waren ist auf dem „Udelka“-Markt wahrscheinlich größer als sonst irgendwo in Russland. Das bedeutet, dass Sie auf dem St. Petersburger Flohmarkt in Nostalgie schwelgen können, unabhängig davon, in welchem Land Sie aufgewachsen sind.