Warum setzten die Russen „überdachte“ Kreuze auf die Gräber?

Im russischen Norden, Ende XIX-Anfang XX Jahrhundert.

Im russischen Norden, Ende XIX-Anfang XX Jahrhundert.

Messir (CC BY-SA)
Überdachte Kreuze findet man noch auf alten Friedhöfen in abgelegenen Dörfern, vor allem im russischen Norden. 

In der orthodoxen Tradition ist es obligatorisch, ein Kreuz auf das Grab zu stellen: in der Regel ist es ein hohes Kreuz mit acht oder sechs Enden mit einem Querbalken. Kreuze mit vier Enden werden von Katholiken verwendet. Und was bedeuten die Kreuze „mit Dach“, oder, wie sie häufiger genannt werden, Golubjéz-Kreuze (Taubenkreuze)?

Was bedeutet Golubjéz?

Ein Taubenkreuz ist ein Gedenkstein in Form einer Hütte oder mit einem symbolischen „Dach“. Das Wort Golubjéz hat in der Architektur zwei Bedeutungen. Bei der ersten handelt es sich um ein Dach, das die Fresken und Ikonen an der Fassade des Gotteshauses vor schlechtem Wetter schützt.

So sieht dieses Dach an der Fassade der Mariä-Entschlafens-Kathedrale des Moskauer Kremls aus.

Die andere Bedeutung leitet sich vom Wort Golbjéz ab, das in russischen Hütten einen hölzernen Anbau an den Herd bezeichnet, in dem es einen Abstieg in den Keller, einen Vorratsraum oder eine Grube gibt. Die Menschen glaubten, dass der Domowój (der Hausgeist aus der Unterwelt) dort lebte und das Haus bewachte. In einem philosophischen Sinne war der Golbjéz eine Art Portal zum Jenseits. 

In der rechten Ecke des Fotos, das im Kizhi-Museum aufgenommen wurde, sind die Golbetten zu sehen.

Diese Art von Anbau war charakteristisch für Karelien und die Region Archangelsk und kann in Museen für Holzarchitektur besichtigt werden.

So symbolisierten die Golubjéz-Kreuze die Heimat des Verstorbenen. Sie waren ausschließlich aus Holz gefertigt, und in einigen Fällen waren sowohl das Dach als auch die Säule reich mit Schnitzereien verziert, während in anderen Fällen eine Ikone angebracht war, die lediglich den Namen und die Lebensjahre angab. 

Der Friedhof der Altgläubigen, Kem (heute Karelien).

Wie sind die Golubjéz-Kreuze entstanden?

Die Golubjéz-Kreuze gehen auf heidnische Bestattungsriten bei den slawischen Völkern zurück. 

Wenn der Verstorbene der Erde übergeben wurde, stellte man eine so genannte Totenhütte oder eine Domowína (dt.: Sarg) in Form einer Blockhütte auf das Grab und füllte sie mit Vorräten für das Leben nach dem Tod. 

Das hatte auch einen praktischen Sinn. Erstens war es schwierig, den gefrorenen Boden aufzugraben (und das Klima war sowohl vor tausend Jahren als auch heute sehr rau). Zweitens schützte diese Konstruktion vor wilden Tieren. Sie konnte auch als Versteck genutzt werden.

Das Grab mit der Izba.

In den russischen Volksmärchen taucht häufig das Bild einer Hütte auf Hühnerbeinen auf, in der Baba Jagá wohnt; eben dieses Haus на курьих ножках (na kúrych nóschkach, dt.: auf Hühnerbeinen) ist das Symbol für den Übergang von der Welt der Lebenden in die Welt der Toten. Das Wort kuryj leitet sich in diesem Fall nicht von kurinyj (dt.: Hühner-), sondern vom Wort kurennyj (dt.: geräuchert) ab, da das Holz auf diese Weise vor Fäulnis geschützt wurde. In Skandinavien gibt es ähnliche Hütten. 

Die Izba der Baba Jaga vom russischen Volk.

Das Golubjéz-Kreuz ist jedoch eine verkleinerte Kopie einer Domowína, die sowohl auf dem Grab selbst als auch an der Straße aufgestellt wurde, um den Weg zur Grabstätte anzuzeigen. Wie der Architekt Lew Dahl, der das Phänomen der Taubenkreuze untersucht hat, feststellte, „glaubten die Bewohner, dass sie das Dorf vor bösen Geistern schützen“.

Ein Golubets in der Nähe der Straße.

Einige slawische Völker (z. B. die Wjatitschen, Kriwitschen und Sewerjanen) verbrannten die Toten nicht nur, sondern stellten auch Gefäße mit der Asche in die Taubenkreuze. Das Dach schützte den Inhalt vor Schnee und Regen. Später wurde die Einäscherung aufgegeben, aber die Symbole der Bestattung blieben erhalten. 

Wassili Perow.

Unter dem Verbot der Kirche

Nach der Christianisierung Russlands im Jahr 988 verbot die Kirche heidnische Rituale, die jedoch in der einen oder anderen Form bis heute überlebt haben, wie die Másleniza (dt.: Butterfest vor der Fastenzeit) oder die Kránaja Górka (dt.: Roter Hügel, ein Fest zum Frühlingsbeginn). In die Taubenkreuze wurden orthodoxe Ikonen, Gebete oder einfach ein „Dach“ über dem orthodoxen Kreuz angebracht.

Das Golubets-Kreuz, die Stadt Puschkin bei St. Petersburg.

Heute werden diese Grabbauten ausschließlich mit den Altgläubigen in Verbindung gebracht, d. h. mit dem Teil der Gläubigen, die die Kirchenreformen des 17. Jahrhunderts nicht akzeptierten und deshalb verfolgt wurden. 

Sie zogen tief in das Landesinnere, lebten in abgelegenen Dörfern, die nicht so leicht zu erreichen waren, und stellten dort solche Kreuze auf, wie sie es schon seit Jahrhunderten getan hatten. Deshalb sind Taubenkreuze am besten in den Dörfern des russischen Nordens erhalten, weit weg von den großen Städten. In geringer Zahl sind sie auch an der Wolga, im Ural und in Sibirien zu finden. 

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