Warum Russland und der Westen nach Armenien schauen sollten

Die Unruhen in Jerewan könnten die Friedensbemühungen durchkreuzen.

Die Unruhen in Jerewan könnten die Friedensbemühungen durchkreuzen.

PAN Photo via AP
Die Besetzung eines Polizeireviers in Jerewan könnte nicht nur für Russland, sondern auch für die Türkei und die ganze Kaukasusregion ernsthafte Konsequenzen haben.

Bei der Besetzung eines Polizeireviers in Jerewan Mitte Juli wurden mehr als 50 Menschen verletzt. Vorausgegangen war ein zwei Wochen andauernder Nervenkrieg, bei dem bewaffnete Männer, die eine Rückführung Berg-Karabachs in das Staatsgebiet Armeniens fordern, Geiseln nahmen. Zwar ließen sie die Gefangenen am Ende frei, nichtsdestoweniger kam es auf den Straßen Jerewans zu Massenunruhen. Diese Ereignisse könnten Russlands jüngste Versuche, Jerewan und Baku auszusöhnen, zum Scheitern bringen, aber auch für den Westen ernsthafte Konsequenzen haben.

Die Jerewan-Ereignisse aus Sicht des Berg-Karabach-Konflikts

Die Unruhen in Jerewan könnten auf Georgien mit seinem großen aserbaidschanischen und armenischen Bevölkerungsanteil ausstrahlen. Außerdem könnten sie zum Prüfstein für die Lebensfähigkeit der Minsk-Gruppe der OSZE werden. Die Gruppe, zu der Russland, Frankreich, die USA und andere Länder mit einer großen armenischen Diaspora gehören, wurde 1992 ins Leben gerufen, um eine friedliche Lösung für den Konflikt um Berg-Karabach zu finden.

Berg-Karabachs Streben nach Unabhängigkeit und Aserbaidschans Versuche, das umstrittene Gebiet zu kontrollieren, spiegelt den grundsätzlichen Konflikt zwischen zwei grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts wider: dem Recht der Menschen auf Selbstbestimmung und der territorialen Souveränität eines Landes. Unter dem Blickwinkel der Sicherheit bleibt Berg-Karabach gemäß einem Bericht der Analyse-Agentur Wneschnjaja Politika (zu Deutsch: „Außenpolitik“) mit Sitz in Moskau „eine der gefährlichsten Herausforderungen im Kaukasus“.

Tatsächlich könnte Berg-Karabach auch auf der gemeinsamen Agenda von Moskau und Tbilisi landen. Experten sind jedoch skeptisch: Angesichts des unterschiedlichen Einflusses von Moskau und Tbilisi in dieser Region und des mangelnden gegenseitigen Verständnisses in Bezug auf den russisch-georgischen Konflikt ist ein pragmatisches Vorgehen eher unwahrscheinlich. „Auf institutioneller Ebene werden Moskau und Tbilisi in Bezug auf Berg-Karabach nicht zusammenarbeiten, weil es keinen dringenden Bedarf an einer solchen Zusammenarbeit gibt“, meint Sergej Markedonow, außerordentlicher Professor an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften und Experte für den Südkaukasus. Das bedeute aber nicht, so Markedonow weiter, „dass Moskau seine Initiativen mit Georgien oder anderen Akteuren wie der Türkei und dem Iran nicht koordinieren kann“.

Gegenwärtig sind die meisten Akteure vollständig von Syrien und der Ukraine in Anspruch genommen und würden sich, wie Thomas de Waal, als Seniorpartner bei Carnegie Europa für die Kaukasusregion zuständig, hinweist, nur „sehr ungern stärker engagieren“. Doch das könnten sie bedauern, wenn sich der Konflikt in einen umfassenden Krieg verwandeln sollte. In diesem Szenario wird es ganz offensichtlich nur wenige Sieger geben, dafür aber zwei Verlierer: Russland und Georgien.

Im Fall von Russland bleiben sowohl Armenien als auch Aserbaidschan zwei der wichtigsten strategischen militärischen Handelspartner Moskaus. Aserbaidschan beispielsweise wird auch weiterhin russische Waffen kaufen. Moskau sendet ebenso Panzer und andere Militärtechnik nach Armenien. Eine militärische Konfrontation zwischen Armenien und Aserbaidschan würde einen Totalausfall der russischen Diplomatie (und der Minsk-Gruppe der OSZE) bedeuten. Sie könnte auch Russlands Reputation im postsowjetischen Raum untergraben.

Für Georgien würde jede Eskalation in Berg-Karabach zu Spannungen innerhalb des Landes führen, vor allem zwischen der armenischen und aserbaidschanischen Diaspora. „Die Situation ist für Georgien sehr kompliziert, weil das Land enge Wirtschaftsbeziehungen zu Aserbaidschan unterhält und die beiden Länder über eine gemeinsame Infrastruktur, zum Beispiel die Pipeline Baku-Tbilisi-Ceyhan, verfügen“, sagt Markedonow. „Georgien hängt von Aserbaidschans Energie ab und betrachtet Baku als einen strategischen geopolitischen Partner. Aber gleichzeitig lebt in dem Land eine riesige armenische und aserbaidschanische Diaspora. Deshalb versucht Tbilisi – wie auch Russland – den Spagat zwischen Armenien und Aserbaidschan.“

Unterschätzte Herausforderung?

Der wichtigste Punkt jedoch ist, dass der Berg-Karabach-Konflikt Moskau und Ankara, das Berg-Karabach unterstützt, in eine neue Konfrontation treiben könnte. Nach der Eskalation in der Region Anfang April sagte der türkische Präsident Recep Erdoğan voraus, dass Berg-Karabach nach Aserbaidschan zurückkommen werde, und der ehemalige türkische Ministerpräsident Ahmed Davutolgu erklärte, dass Ankara „sein Äußerstes tun wird, um die Befreiung von Aserbaidschans besetzten Territorien zu beschleunigen“.

Momentan scheinen Moskau und Ankara ihre Beziehungen wieder zu verbessern, nachdem der türkische Präsident sich für den Ende November 2015 erfolgten Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges entschuldigt hatte. Eine Eskalation in Berg-Karabach könnte ihre Versöhnungsbemühungen jedoch behindern, sodass keiner an einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan interessiert sein dürfte.

„Sowohl Baku als auch Jerewan kämen unter Druck, wenn sie die Schutzabkommen, die sie mit der Türkei und Russland entsprechend unterzeichnet haben, in Anspruch nehmen und Ankara und Moskau in einen Stellvertreterkrieg verwickeln würden. Diese sicherheitspolitische Dynamik lässt sowohl die lokalen als auch die internationalen Akteure zu Gefangenen des Kaukasus werden“, warnt de Waal.

In Anbetracht dessen, dass die Türkei ein Nato-Mitglied ist, könnten die lokalen Ereignisse in Jerewan sich weltweit auswirken und ernste Konsequenzen nicht nur für Armenien und Aserbaidschan, sondern auch für Russland, die Türkei und den Westen haben. Die Kette von Ereignissen, die mit der Geiselnahme in Jerewan begann, könnte sämtliche Friedensbemühungen behindern und eine weitere Eskalation in Berg-Karabach provozieren. So könnte ein lokales Ereignis in Armenien zu einem GAU in der Kaukasusregion führen.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Russia Direct

Bergkarabach, Transnistrien, Südossetien: Das Erbe der UdSSR

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