Nach Foltervorwürfen: Sympathiewelle für Oppositionellen in Haft

Ildar Dadin wurde nach Teilnahme an mehreren nicht genehmigten Protesten des mehrfachen Verstoßes gegen das neue Demonstrationsgesetz beschuldigt und im Dezember 2015 zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt.

Ildar Dadin wurde nach Teilnahme an mehreren nicht genehmigten Protesten des mehrfachen Verstoßes gegen das neue Demonstrationsgesetz beschuldigt und im Dezember 2015 zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt.

AFP / East News
Der inhaftierte Oppositionelle Ildar Dadin hat mit Berichten über massive Gewalt und Folter während seiner Haft für eine landesweite Welle der Empörung gesorgt. Das Ausmaß der öffentlichen Reaktion hätte man sich früher kaum vorstellen können.

Aufgehängt an den Handgelenken, verprügelt und mit Vergewaltigung und sogar Tod bedroht – ein schockierender Brief des oppositionellen Bürgerrechtlers Ildar Dadin aus der Strafkolonie im karelischen Segescha versetzte am Dienstag die russische Öffentlichkeit in Aufruhr.  

„11. September 2016: Ich wurde an diesem Tag insgesamt vier Mal von zehn bis zwölf Leuten zeitgleich geschlagen, auch mit den Füßen. Nach dem dritten Mal drückten sie meinen Kopf in die Toilette meiner Zelle“.

„12. September 2016: Meine Hände wurden mit Handschellen auf meinem Rücken fixiert, dann wurde ich an den Handgelenken aufgehängt. Danach zogen sie mir meine Unterwäsche aus und drohten, einen anderen Häftling zu bringen, um mich zu vergewaltigen“.

Ildar Dadin wurde nach Teilnahme an mehreren nicht genehmigten Protesten als erster Russe überhaupt des mehrfachen Verstoßes gegen das neue Demonstrationsgesetz beschuldigt und im Dezember 2015 zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Urteil stieß auf große Resonanz: Der Aktivist wurde nicht nur von Sympathisanten unterstützt, die ihn als  „Gefangenen der Freiheit“ bezeichnen, sondern auch von Kritikern. Viele hielten seine Strafe für zu hart und sogar verfassungswidrig.

Seit seiner Inhaftierung war Dadin jedoch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Nur kurz tauchte sein Name im Zusammenhang mit Klagen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und einem angeblichen neuen Prozess auf. Doch das hat sich nun schlagartig geändert. Sein Brief, den er über seinen Anwalt an seine Frau schickte mit der Bitte, seine Lage öffentlich zu machen, hat eine hitzige Debatte über die harten Haftbedingungen in Russland ausgelöst.

Noch am selben Tag äußerte sich der Kreml mit einer Stellungnahme, Bürgerrechtler reisten in die Strafkolonie, vor dem Gebäude des Föderalen Dienstes für Strafvollzug kam es zu Demonstrationen und Ermittlungen wurden angekündigt. Eine dermaßen schnelle, fast augenblickliche Reaktion auf eine einzige, wenn auch skandalöse, Beschwerde ist einzigartig in Russland. Zumal Nichtregierungsorganisationen immer wieder über Folter in russischen Gefängnissen berichten.

Sichere Beweise?

Laut Ilda Dadin begann das Foltern bereits am ersten Tag seiner Ankunft in der Strafkolonie. Man habe ihm Rasierklingen untergeschoben, die später „gefunden“ worden seien, sodass er in Einzelhaft kam. „Das ist hier eine gängige Methode, um den Gefangenen sofort klar zu machen, dass sie sich ab jetzt in der Hölle befinden“, schrieb Dadin. Daraufhin trat der Aktivist in den Hungerstreik. Die folgenden Ereignisse seien Versuche der Gefängnisverwaltung gewesen, den Oppositionellen „zur Vernunft zu bringen“.

Nachdem sein Brief veröffentlicht wurde, kündigte die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation Tatjana Moskalkowa an, sich umgehend mit dem Vorfall zu befassen. Dmitrij Peskow, Sprecher des Kremls, erklärte, den russischen Präsidenten zu informieren. 

Der Föderale Dienst für Strafvollzug selbst räumte in einem Interview mit der Zeitung „Nowaja Gazeta“ zunächst ein, dass Dadin körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Doch nur, weil dieser „randalierte und seine Zelle nicht verlassen wollte“ und dabei die Wärter angegriffen habe. Später widerrief die Behörde ihre Aussage und bestritt jegliche Gewaltanwendung.

Der Oppositionelle hätte seine Vorwürfe zurückgezogen, erklärte die Behörde, ihr liege eine Videoaufnahme davon vor. Zudem hätte eine medizinische Untersuchung keine Anzeichen für eine Misshandlung nachweisen können. Gleichzeitig veröffentlichten einige kremlnahe Medien ein Foto, auf dem Dadin bei guter Gesundheit erscheint. Die Öffentlichkeit überzeugte das jedoch nicht: Zum einen wurde das Video nie veröffentlicht, zum anderen gab es Zweifel am Zeitpunkt der Aufnahme der Fotografien.

Der neue Magnitsky

Das Straflager, das nun im Fokus der Öffentlichkeit steht, ist nicht unbekannt. Der frühere Chef des Ölkonzerns Yukos und Kremlkritiker Michail Chordokowski saß seine Haftstrafe ebenfalls hier ab. Es gab auch früher schon Beschwerden, wie Menschenrechtsaktivisten berichten, doch diese hätten nicht im Zusammenhang mit Folter gestanden. Allerdings, so bemerkt Igor Kalajpin, Leiter der Menschenrechtsorganisation „Komitee gegen Folter“, sei Ildar Dadin ein besonderer Häftling, da hätte alles passieren können.

Die Bekanntheit des Oppositionellen war wohl letztlich auch der Anstoß dafür, dass Blogger zügig auf dessen Brief reagiert und ihn in den sozialen Medien verbreitet haben. Nur wenige Stunden später war das Foto des Lagerdirektors Major Kossiew, der an den Misshandlungen beteiligt gewesen sein soll, tausendfach im Netz geteilt und Ildar Dadin zum „neuen Magnitsky“ erhoben – in Anlehnung an den Anwalt, der 2009 in einem Moskauer Gefängnis zu Tode geprügelt wurde. Zudem wurde eine Petition ins Leben gerufen, die eine Ermittlung und Revision seines Urteils fordert. Innerhalb von zwei Tagen kamen fast 18 000 von 25 000 nötigen Unterschriften zusammen.

Diese enorme öffentliche Aufmerksamkeit zeige, dass immer mehr Menschen Position beziehen statt sich einen solchen Machtmissbrauch gefallen zu lassen, meint Stanislaw Kutscher, Kommentator von Kommersant FM. Und genau das bewirke, was vor zehn Jahren noch unvorstellbar gewesen sei: eine sofortige Reaktion der Regierung.

Der Journalist Anton Orech mutmaßt, es sei wohl komplizierter geworden, „Böses zu verbergen“. Oder man habe endlich verstanden, dass heutzutage jeder ins Gefängnis kommen könne, auch wenn man unschuldig sei. „Genau deshalb“, so schreibt Orech, „ist Dadins Geschichte enorm wichtig für jeden von uns.“

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