Von „Eineinhalb Zimmer“ bis psychiatrische Klinik: Joseph Brodskys Orte in Sankt Petersburg

Oleg Porokhovnikov/TASS; Getty Images
Wo wurde der bekannte Dichter des 20. Jahrhunderts geliebt, beurteilt und kritisiert?

Der Literaturnobelpreisträger, der russische Dichter und Essayist Joseph Brodsky wurde 1972 von der Sowjetregierung wegen seiner Werke aus dem Land vertrieben. Er kehrte nie nach Hause zurück, obwohl er nach der Auflösung der Sowjetunion in seine Heimatstadt Sankt Petersburg eingeladen und sogar mit dem Titel „Ehrenbürger“ ausgezeichnet wurde.

Nichtsdestotrotz wurde die Stadt zum Mittelpunkt seiner Lyrik, denn es war Sankt Petersburg, das Brodsky als Person und Dichter prägte. Hier nur einige Orte, die ihn eng mit dem „Venedig des Nordens“ verbinden.

1 Das Muruzi Haus

Die Familie Brodsky lebte in einer Gemeinschaftswohnung im zweiten Stock des Gebäudes. Es waren, wie der Dichter später erinnerte, „eineinhalb Zimmer“. Das Zimmer seiner Eltern, das Fotostudio seines Vaters und eine Ecke mit Josephs Büchern verbrauchten wenig Platz. Der Dichter schrieb einen gleichnamigen Essay („Eineinhalb Zimmer“) über sein Leben in diesem Haus, als er in New York lebte.

Heute erinnert eine Gedenktafel am Muruzi Haus an Brodsky. Besucher der Ausstellungen und Vorträge, die hier von Zeit zu Zeit stattfinden, können erleben, wie Brodsky in den „eineinhalb Zimmer“ wohnte.  

2 Brodskys Schule 

Brodsky besuchte fünf verschiedene Schulen. Er war kein fleißiger Schüler und hat mehrere Prüfungen, einschließlich Englisch, nicht bestanden. Als er 15 Jahre alt war, beschloss der zukünftige Dichter, die Schule zu verlassen. 

Über ihre Schulzeit sagte eine alte Freundin, Olga Brodowitsch, dass eines Tages jemand Brodsky eine Notiz schickte: „James Aldridges neuer Roman ist gerade in der Buchhandlung am Litejnyj-Prospekt angekommen.“ Mitten im Unterricht stand er auf und ging, um das Buch zu kaufen. Der Lehrer war schockiert und als Brodsky mit dem Kauf ins Klassenzimmer zurückkam, befahl er ihm, seine Eltern zur Schule zu beordern.

Der Ruf eines schlechten Schülers konnte seinen späteren Ruf als einer der gebildetsten Menschen des 20. Jahrhunderts kaum zerstören. Eines Tages, viele Jahre später, setzte sich Brodsky in den USA an eine Schreibmaschine und entwarf eine Liste von Büchern, die jeder lesen sollte: Sie umfasste Werke von alten Philosophen bis zu zeitgenössischen Dichtern. 

3 Fabrik „Arsenal“

Nach dem Abitur bekam Brodsky eine Anstellung als Fräsarbeiter im Arsenal-Werk, um etwas Geld zu verdienen und damit seine Familie finanziell zu unterstützen.

Brodsky arbeitete hier nur ein Jahr, aber die Industrielandschaften der Stadt begleiteten den Dichter weiterhin in seinen literarischen Werken.

4 Maxim-Gorki-Kulturpalast

1960 trat Brodsky erstmals öffentlich im Kulturpalast auf. Sein Auftritt war eine Art Protest des jüdischen Dichters gegen Antisemitismus in der UdSSR. Er las sein Gedicht „Judenfriedhof“ vor, dessen kühne Zahlen einen Skandal auslösten:

Für sich selbst gesungen.

Für sich selbst gespart.

Für andere gestorben.

Doch zuvor bezahlten wir Steuern,

respektierten den Gerichtsvollzieher,

und in dieser hoffnungslos materiellen Welt, 

legten sie den Talmud aus

und blieben dabei doch Idealisten. 

Das Gedicht konnte von den im Saal anwesenden Parteimitgliedern nicht geschätzt werden. Die Rebellion des autodidaktischen Dichters schien ihnen unangebracht und empörend.

5 Haus seiner Geliebten M.B.

Die russische Liebe des Dichters, der Brodsky viele Gedichte widmete, lebt noch heute im Benoit-Haus in der Glinka-Straße. Die Künstlerin Marina Basmanowa ging nicht mit ihm nach Amerika, aber trotz der Trennung standen sie weiterhin in Korrespondenz.

Die erste Geliebte Brodskys ist keine öffentliche Persönlichkeit. Ihr gemeinsamer Sohn Andrei Basmanow mag es nicht, mit dem berühmten Vater verglichen zu werden. Er war fünf, als Brodsky die UdSSR verließ.

6 Amtsgericht des Bezirks Dserschinski

1964 fand hier der Prozess gegen den „Parasiten“ Brodsky statt. Dieser wurde weit bekannt, als die Schriftstellerin und Journalistin Frida Wigdorowa Stenogramme der zwei Gerichtsverhandlungen veröffentlichte. Die Sankt Petersburger Intelligenzija verbreitete die witzigen Antworten des Angeklagten Brodsky mithilfe des Samisdat, so hieß die Verbreitungsmethode verbotener Schriften in der Sowjetunion:

Richter: Was machen Sie beruflich?

Brodsky: Ich bin Dichter und übersetze Dichter.

Richter: Und wer hat es anerkannt, dass Sie ein Dichter sind? Wer hat Sie den Dichtern zugerechnet?

Brodsky: Niemand. (Unaufgefordert) Wer hat mich der Menschheit zugerechnet?

Richter: Haben Sie studiert?

Brodsky: Was?

Richter: Um Dichter zu werden. Haben Sie versucht, eine Universität abzuschließen. Wo man lehrt, .. . wo man ausbildet. . .

Brodsky: Ich hätte nicht gedacht, dass man durch Bildung als Dichter angesehen wird.

Richter: Wie dann?

Brodsky: Ich denke. . . (ratlos) es kommt von Gott. . .

7 Psychiatrische Klinik Nr. 2

Im selben Jahr schickte das Gericht den Dichter zur obligatorischen psychiatrischen Untersuchung. Er verbrachte drei Wochen im Krankenhaus und bemerkte später, es sei die schlimmste Zeit in seinem Leben gewesen.  

Brodsky schrieb, dass er manchmal mitten in der Nacht absichtlich geweckt, in ein Eisbad getaucht, dann in ein feuchtes Betttuch gewickelt und neben einen heißen Heizkörper gestellt wurde.

Letzten Endes wurde der „Parasit“ Brodsky für arbeitsfähig erklärt.

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