Ich mache mich auf die 222 Kilometer lange Reise von Moskau nach Kaschin, einer städtischen Siedlung (so wird in Russland ein großes Dorf bezeichnet) mit etwa 14.000 Einwohnern in der Region Twer. Begleitet werde ich von meinem Freund Viktor Salamatow, der seine berufliche Karriere aufgegeben hat und sich nun als Botschafter seiner Heimat Sachalin versteht.
Der wolkenverhangene Himmel und die Düsternis, die die russische Hauptstadt in der ungemütlichen Zeit zwischen Herbst und Winter durchziehen, folgen mir nach Norden. Plötzlich verschwindet das Grau an der Grenze zwischen den Regionen Moskau und Twer. Blauer Himmel, Sonnenschein und Landschaften, die an die berühmten Gemälde von Iwan Schischkin erinnern, begrüßen uns auf der anderen Seite. Aber, wenig überraschend für den Norden, es ist kälter. Die Region, in die wir reisen, liegt in unmittelbarer Nähe zu einigen der bekanntesten historischen Städte Russlands wie Twer, Rostow und Jaroslawl.
Historische Stadt wie aus dem Märchen
Kaschin, das am Ufer der Kaschinka, einem kleinen Nebenfluss der Wolga, liegt, wird in historischen Chroniken bereits im 13. Jahrhundert erwähnt. Es überstand die Plünderung durch die Goldene Horde ebenso wie die Angriffe polnischer Eroberer während des Polnisch-Muskowitischen Krieges im 17. Jahrhundert.
Das ruhige Zentrum von Kaschin, das sich um die Auferstehungskathedrale gruppiert, erinnert an eine Stadt aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. Gleich 29 orthodoxe Kirchen stehen in der Stadt, die eingebettet ist in fruchtbares Ackerland. Auf dem Marktplatz in der Nähe des Flusses finden kulturelle Veranstaltungen mit Gesangs- und Tanzdarbietungen und Essen und Trinken statt.
Bekannt für Spirituosen
Ein weiterer Grund, warum Kaschin über die Grenzen der Region Twer hinaus bekannt ist, ist die 1898 gegründete Alkoholbrennerei Weresk (zu Deutsch „Heide“). Neben Likören und Gin stellt das Unternehmen den Wodka „Twerskaja“ und eine weitere Wodka-Marke her, die zu Ehren des berühmtesten Sohnes von Twer benannt wurde - Afanassi Nikitin, ein Kaufmann und Reisender aus dem 15. Jahrhundert. Als Moskau 1980 Gastgeber der Olympischen Sommerspiele war, brachte Weresk „Twerskaja Gorkaja´“ auf den Markt, ein bitterschmeckendes alkoholisches Getränk, das in der ganzen Stadt erhältlich war und bei ausländischen Besuchern sehr beliebt war.
Der Geschmack von Sachalin
Streng genommen ist die Weresk-Brennerei nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, und es gibt keine zufälligen Besucher wie etwa Touristen auf einem Weingut in Frankreich. Aber ein neues alkoholisches Getränk, „Klopowka“, aus roten Heidelbeeren, die im russischen Fernen Osten und im Norden Japans heimisch sind, hat mein Interesse geweckt.
Das Getränk ist eine Erfindung von Viktor. Er verschafft mir Zutritt zur Brennerei. Das Sicherheitspersonal scannt meinen Reisepass mit einer gewissen Belustigung. Sie sind an Geschäftsreisende aus Europa, Japan und sogar China gewöhnt, aber Indien ist für sie offenbar ein Land der Abstinenzler.
Der Direktor von Weresk, Wladimir Perin, zeigt uns einige der neuen Liköre, die sich in der Produktionslinie befinden. Sein Büro ist voll mit allen möglichen Auszeichnungen und Zertifikaten, die die Produkte von Weresk gewonnen haben, aber ich interessiere mich weiter vor allem für das neue Getränk aus Sachalin.
Als ich den ersten Schluck „Klopowka“ probiere, schweifen meine Gedanken von Zentralrussland zu einem der am dünnsten besiedelten Orte der Erde - Sachalin, das acht Zeitzonen und gefühlt einen Planeten von Kaschin entfernt ist (dazwischen liegen etwa 10 000 Kilometer!). Ich werde sofort an die Beeren, die Natur, die Landschaften und die kalte Meeresbrise von Russlands größter Insel erinnert. Das Getränk mit einem Alkoholgehalt von 35 Prozent wird als exklusives Getränk vermarktet, das sich gleichermaßen als Aperitif, Digestif oder Dessertbegleitung eignet.
Die spirituelle Seite von Kaschin
Nachdem wir die Brennerei verlassen haben und wieder in den Sightseeing-Modus geschaltet haben, begeben wir uns zurück zum Hauptplatz. Die Auferstehungskathedrale, die ursprünglich 1382 erbaut und der heiligen Anna von Kaschin geweiht wurde, stammt in ihrer heutigen Form aus dem frühen 19. Jahrhundert. Die Kirche wurde 1940 in ein Lagerhaus umgewandelt und ab den 1970er Jahren als Kulturhaus genutzt. Erst 2009 wurde sie wieder zu einer orthodoxen Kirche. Sie wird derzeit umfassend restauriert, um das ursprüngliche Ambiente wiederherzustellen.
Der Höhepunkt eines Kirchenbesuchs ist der Aufstieg auf die Spitze des 76 Meter hohen Glockenturms, der in den 1830er Jahren erbaut wurde. Die Glocke wurde der Legende nach in den 1870er Jahren von der Leipziger Messe gekauft.
In der Nähe der Kathedrale gibt es einige kleinere Restaurants, die russische Hausmannskost servieren. Ein paar hundert Meter von der Kathedrale entfernt finden wir ein uriges Bistro mit Blick auf den Fluss. Im Herbst ist es zu kalt, um auf der Terrasse zu sitzen, aber in den wärmeren Monaten muss es ein schöner Ort sein, um Borschtsch zu essen.