Wie ein Deutscher mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland reiste (FOTOS)

Aus dem persönlichen Archiv
Er ließ seinen Job und seine Karriere hinter sich, kaufte ein One-Way-Ticket und reiste 166 Tage lang durch Russland.

Chris Sun war ein erfolgreicher Geschäftsmann, hatte aber das Gefühl, dass etwas in seinem Leben fehlte. Dies bewegte ihn zu dem Schritt, eine lange Reise nach Russland zu unternehmen, die schließlich über fünf Monate dauerte und sein Leben für immer verändern sollte. 

Alles hinter sich lassen

Chris wurde 1987 in Ost-Berlin geboren und fühlte sich schon immer irgendwie mit Russland verbunden. Seine Eltern lebten die meiste Zeit ihres Lebens in der DDR, und sein Großvater reiste sogar einmal mit seiner Frau in die UdSSR, wo er in einer Gruppe Moskau besuchte und eine Flussfahrt auf der Wolga unternahm. Er erzählte Chris immer wieder von den Moskauer Metrostationen, die er als Paläste im Untergrund beschrieb, von der Weite der Wolga und der Freundlichkeit und Gastfreundschaft der sowjetischen Menschen. 

Chris besuchte Russland zum ersten Mal im Jahr 2013 und dann erneut im Jahr 2015. Beide Male suchte er vorwiegend touristische Orte auf und ließ sich von seinen Freunden führen. Erst 2017 kam er auf die Idee, auf eine große Reise zu gehen, um das wahre Russland zu entdecken: „2017, als ich mich zu diesem Schritt entschloss, war ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Mein Leben war bequem, aber irgendetwas schien zu fehlen, und ich hatte das Gefühl, dass mein soziales Dasein nicht ausgefüllt war. Ich war 30 Jahre alt. Es war ein ‚Jetzt-Oder-Nie-Moment‘. Und so beschloss ich, mit der Transsibirischen [Eisenbahn] zu reisen!“ 

Mit dieser konkreten Entscheidung folgte er den Spuren seines verstorbenen Großvaters, dessen Traum es war, mit der Transsib zu reisen. Also nahm er sich eine Auszeit und verließ Deutschland für zwei Jahre, von denen er über fünf Monate in Russland verbrachte.

Fan-ID als Visum

Im Jahr 2018, als Russland erfolgreich die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft ausrichtete, durften alle Inhaber einer Fan-ID diese bis zum Ende des Jahres als Mehrfachvisum verwenden. Das war sehr praktisch, denn Chris brauchte viel Zeit zum Reisen, konnte aber nur ein Touristenvisum für 30 Tage bekommen. Er reiste im Sommer nach Russland ein und fuhr direkt nach Wladiwostok. Von dort aus begann seine Reise.

„Ich hatte eine allgemeine Vorstellung von den möglichen Stationen auf dem Weg. Aber nichts war gebucht oder konkret geplant. Ich ging einfach dorthin, wohin der Wind mich trug. Bis vor ein paar Jahren dachte ich noch, die Transsibirische Eisenbahn sei ein besonderer, teurer Zug. Die meisten Online-Suchergebnisse ließen diesen Eindruck entstehen. Dann erfuhr ich von zwei Austauschstudenten, dass die Transsibirische Eisenbahn in Wirklichkeit ein Netz regulärer Personenzüge ist. Also reiste ich nach Wladiwostok, weil ich einen Freund hatte, der dort lebte. Ich hielt es außerdem für besser, mich bereits in Richtung Europa zu bewegen, falls irgendetwas schief gehen sollte, und so das Risiko zu verringern“, erzählt Chris.

Herberge auf Rädern

Chris wählte für seine Reise die billigste Variante - die „Platzkarte“ - und bereute es nicht. In einem geschlossenen Coupé-Abteil, so glaubt er, kann man nichts wirklich entdecken, während man in einer „Platzkarten-Klasse“ viele Leute trifft und beginnt, das wahre Leben des Landes zu entdecken. „Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal den Baikalsee aus dem Fenster sah und neben mir ein alter Mann saß, der mit seinen beiden Enkelkindern spielte. Da wurde mir klar, wie viel Glück ich habe, durch das Land zu reisen und wirklich mit den Menschen in Kontakt zu kommen! Die „Platzkarten-Klasse“ ist wie eine Herberge auf Rädern. Nach zwei Nächten kannte man jeden, denn irgendwann kreuzten sich die Wege, wenn man auf die Toilette ging, gemeinsam „Durak“ spielte oder sich am Samowar Tee nachschenken ließ. Das war es, was ich auf meinen Reisen immer erreichen wollte: ein Teil des Landes zu sein, anstatt es aus einer Blase heraus zu beobachten. Ich begann zu erfahren, was die Menschen denken und fühlen, und das war sehr wertvoll.“ Chris hatte auch eine sehr schöne Begegnung mit einer alten Dame, mit der er den Platz tauschen wollte. Als die Dame merkte, dass er ein wenig Russisch sprach und er ihr etwas von seiner Geschichte erzählte, begann sie mit ihm zu plaudern und brachte ihm einige neue russische Wörter bei. Als sie aus dem Zug stieg, gab sie ihm einen Zettel mit ihrer Adresse, damit sie Brieffreunde werden konnten. 

Dasselbe geschah, als Chris sich dem Kaukasus näherte und von der transsibirischen Eisenbahnstrecke abwich. Bei einem Zwischenstopp wurde er von einem Sportler aus Dagestan angesprochen. „Er lud mich ein, bei seinen Eltern zu wohnen, und es sah fast wie ein Palast aus! Am Morgen führte er mich in Hasavurt herum und stellte mich dem örtlichen Imam vor, weil er ein wenig Deutsch sprach.“ 

In Russland gibt es alles

Auf seinem Weg übernachtete Chris in vielen Städten. „Wann immer ich auf meiner Reise Leute traf, fragten sie mich, welches von den Ländern, die ich besucht hatte, mir am meisten gefalle. Und ich sage immer, dass Russland außer Konkurrenz steht, weil es dort alles gibt. Es ist einfach unmöglich, es nicht zu mögen. Wenn man die Berge liebt, findet man sie in Russland, wenn man Architektur sucht - Russland hat sie, wenn man warme Orte, kalte Orte, Natur, schöne Städte, das Meer mag - Russland bietet all das. Jede Stadt, die ich besucht habe, hat also ihren eigenen Charme. Unter den Städten, die ich kennenlernen durfte, stechen für mich Irkutsk und Baikalsk heraus, dank des Baikalsees und weil mein Großvater diese Orte immer sehen wollte.“

Das herzerwärmendste Couchsurfing-Erlebnis hatte er in Komsomolsk-na-Amure. Die Seite der Gastgeberin suggerierte, sie spreche Englisch, aber das stellte sich als falsch heraus. Trotzdem nahm sich seine Gastgeberin Natalja drei Tage frei und zeigte Chris die Stadt. Er lernte auch die Nichte und den Neffen seiner russischen Lehrerin in ihrer Heimatstadt Krasnojarsk kennen. Auf dem Goldenen Ring lernte Chris jedoch den Ort kennen, der ihn am meisten faszinierte - Pereslawl-Salesskij. „Da gibt es diesen See, Pleschtschejewo, und die Kirche der vierzig Märtyrer steht buchstäblich in seiner Mitte. Es ist ein sehr ruhiger Ort mit friedlicher Energie und den schönsten Sonnenuntergängen. Ich dachte, ich wäre der glücklichste Mensch, wenn ich dort eine Datscha bekäme!“ 

Unangenehme Begegnungen und FSB-Verhöre

Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass Chris auf seiner Reise keine zwielichtigen Menschen getroffen hat. Einmal versuchten Bergleute im Zug, ihn betrunken zu machen, und wurden von der Polizei rausgeschmissen. Ein anderes Mal, in Ulan-Ude, als er mit einem holländischen Ehepaar zu Abend aß, setzte sich ein betrunkener Mann aus einer Runde, die ein Sofa angezündet hatte, nachdem gegen eine Wasserpfeife getreten wurde, neben ihn und machte dem Kellner Angst vor einem möglichen Konflikt. „Ich blieb einfach ganz ruhig und beantwortete seine Fragen auf Russisch - und es hat funktioniert. Ich glaube, den Menschen in jedem zu erkennen, nimmt die meisten Spannungen weg.“ 

Bemerkenswerter Weise funktionierte dieser Ansatz sogar, als Chris vom FSB (Föderaler Sicherheitsdienst) verhört wurde. Als er auf dem Weg zum Elton-See in der Nähe von Wladikawkas war, versuchte er versehentlich, einen geschlossenen Bereich zu betreten. „Der Sicherheitsdienst fragte mich nach meinen Dokumenten. Ich zeigte meine Fan-ID und meinen Reisepass vor, und man sagte mir, das reiche nicht aus und ich bräuchte eine Sondergenehmigung. Die hatte ich natürlich nicht, und so wurde ich etwa sechs Stunden lang verhört. Mein Ansatz war dann: Okay, ich habe etwas falsch gemacht, aber nicht mit Absicht. Also versuche ich, eine menschliche Beziehung aufzubauen. Ich fing an, mit dem Beamten zu reden, erzählte ihm von mir und warum ich zufällig dort war - und alles verlief reibungslos. Am nächsten Tag fuhr mich der Beamte, der mich verhörte, sogar zum See, füllte meinen Rucksack in einem örtlichen Geschäft auf und nahm mich zum Bahnhof mit!“ 

Innerer Frieden und ein neues Projekt

Einhundertsechsundsechzig Tage in Russland haben aus Chris einem anderen Menschen gemacht. „Was ich in Russland entdeckte, war meine Beziehung zu den Menschen. Die Russen scheinen viel mehr daran interessiert zu sein, Kontakte zu knüpfen und mit Menschen in Verbindung zu bleiben. Und selbst wenn Diskussionen (über Politik) hitzig werden, gibt es immer eine Person, die sagt: „Okay, aber das hat nichts mit uns zu tun. Wir sind Menschen, lasst uns einfach den Abend genießen“. Seit dieser Reise habe ich das beste Verhältnis zu meinen Eltern, und ich stelle Familie und Freunde in den Vordergrund. Jetzt nehme ich mir immer Zeit für einen anderen Menschen, sei es, um direkt zu helfen oder einfach nur, um ein nettes Gespräch zu führen.“ 

Nach der Reise wollte Chris seine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen, aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Schließlich kam der Heureka-Moment - er beschloss, ein Brettspiel zu entwickeln. Während der Covid-19-Pandemie hatte er mit seiner Mutter immer Brettspiele gespielt, und die Idee erschien ihm im Gegensatz zur Entwicklung eines Computerspiels ziemlich plausibel. Das Spiel heißt „The Grand Siberian“, in dem die Spieler Russland erkunden und seine Reise mit einem interaktiven Reiseführer wiederholen können. Die Idee dahinter ist, Russland so zu erleben, wie es ist, mit all seinen guten und weniger guten Seiten. „Mein Großvater ist nicht mehr unter uns. Aber in einem unserer letzten Gespräche habe ich ihn gefragt, was er sich für unsere Gesellschaft wünschen würde. Und er sagte, er würde sich mehr Mitgefühl, Verständnis und Unterstützung unter den Menschen wünschen. Und das ist es, was ich mit meinem Spiel zu vermitteln versuche. Konzentrieren wir uns auf das, was uns verbindet, statt auf das, was uns trennt, und lassen wir die Vorurteile außen vor.“

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