Mein Leben in Russland: Warum ein deutscher Segler aus Bremerhaven seit 30 Jahren in Russland lebt

Tatjana Rettling/Zeitschrift „Nazija“
Peter Schwartz zog in den „wilden Neunzigerjahren“ aus Deutschland aus beruflichen Gründen ins postsowjetische Russland. Heute lebt er in Kaliningrad, ist Besitzer eines Yachtclubs und spricht hervorragend Russisch. Der Bremerhavener, der seit 30 Jahren in seiner neuen Heimat lebt, sieht seine Zukunft in Russland. Der deutsche Segler spricht darüber, was Freundschaft bedeutet, warum Russland mehr Freiheit hat als Deutschland und ob er es geschafft hat, ein bisschen russisch zu werden.

Peter Schwartz ist 58 Jahre alt. Er lebt seit mehr als 30 Jahren in Kaliningrad. Heute betreibt er den Yachtclub Palmburg, wo es neben einer Anlegestelle und einem Reparaturstützpunkt auch ein Bistro und eine Herberge gibt, die im nautischen Stil eingerichtet ist: Kajüten statt Zimmer.

Hierher kam er im lange zurückliegenden 1992 auf Einladung des russisch-deutschen Unternehmens Rossban zum Arbeiten – zum Bau der Berlinka (der Autobahn im Kaliningrader Gebiet).

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab es in Russland eine Periode der so genannten wilden Neunzigerjahre, als vor dem Hintergrund politischer und sozioökonomischer Instabilität zügelloses Gangstertum und Korruption herrschten. So gab es beispielsweise Probleme mit der Versorgung mit Lebensmitteln, und Peter Schwartz und seine Kollegen begannen, sich diese aus Deutschland liefern zu lassen. Das Gehalt, das Schwartz in D-Mark auf sein deutsches Konto überwiesen bekam, konnte er einfach nirgends ausgeben. Er sagt, er habe Mitgefühl mit den Russen gehabt: „Der alte Rubel wurde durch den neuen ersetzt... Die Leute hatten gespart und alles verloren, ich weiß nicht, was ich sagen soll, es war einfach erschreckend.“ Die Frage, ob er mit Kriminellen und Banditen zu tun hatte, verneint er. „In Deutschland sagte man mir vor meiner Abreise: Russland ist unheimlich, sie werden dich töten. Aber ich hatte nie irgendwelche Probleme.“

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„Falsches Russisch“

Schwartz lernte seine zukünftige Frau Jelena bei der Arbeit kennen, als sie 1995 als Übersetzerin bei der Rossban anfing. Heute spricht er ausgezeichnet Russisch, merkt aber an, dass er anfangs das „falsche Russisch“ gelernt habe. Die Deutschen kommunizierten mit den örtlichen Bauarbeitern zunächst über einen Dolmetscher, der die spezifische Terminologie aus dem Baugewerbe nicht besonders gut beherrschte. Seine Ehefrau Jelena stellt fest, dass dies oft zu Missverständnissen führte: „Zum Beispiel werden sowohl schtschébenj als auch gráwij im Deutschen beide als Schotter bezeichnet. Und so konnte man eine LKW-Ladung Schotter bestellen und eine Ladung Kies bekommen... Der Wortschatz der Übersetzer stammt natürlich aus anderen Quellen: Sagen, Legenden und Märchen.“

Nach etwa einem Jahr begann Schwartz, Russisch zu verstehen und zu sprechen, wobei er Wörter und Ausdrücke von seinen russischen Kollegen auf der Baustelle übernahm. Einiges davon entstammte jedoch nicht gerade der Literatursprache.

„Du hörst Wörter, die du nicht verstehst, und du denkst, es seien die richtigen Wörter. Aber es waren die völlig falschen! Du kannst sie nicht verwenden.“ Dann begann er, das „andere“ Russisch zu lernen, ohne die Schimpfwörter. Zum Beispiel sah er sich jeden Tag die Nachrichten auf Russisch an, von denen er sagt, dass er durch sie Russisch lernen kann. „Nicht direkt von den Leuten – das ist gefährlich.“

Die Leidenschaft für Yachten, die Peter Schwartz seit seiner Kindheit hegt, beschloss er schließlich, von einem Hobby in ein Geschäft zu verwandeln. Nach dem Tod eines guten Freundes, der mit Booten handelte, blieb ein großer Kundenstamm zurück. Und zur gleichen Zeit ging Rossban in Konkurs. „Und ich habe hier und da gearbeitet. Ich schätze, man könnte sagen, dass es einfach zufällig passiert ist.“

Zweite Heimat

Kaliningrad ist die angestammte Heimat von Peter Schwartz. Seine Großmutter stammte aus Königsberg und sein Großvater aus der Stadt Olsztyn (heutiges Polen). „In Norddeutschland, wo ich geboren bin, sind viele Leute von hier, jede dritte Familie hat irgendwelche [ostpreußische] Wurzeln.“

Obwohl er seit 30 Jahren in Russland lebt, ist ihm das berühmte russische awóssj nie klar geworden und wird es wohl auch nicht werden. Ach, das reicht aus – nein, das kann ich einfach nicht sagen“, erklärt Schwartz.

Wenn er Deutsche und Russen vergleicht, hebt Schwartz unmissverständlich einen solchen Begriff wie Freundschaft hervor. „Wenn man hier Freunde hat, kann man immer um Hilfe bitten.“ Er merkt an, dass es in Deutschland „nicht üblich ist, dass jemand einfach in dein Haus kommt. Nicht einmal ein Freund – er muss vorher Bescheid geben: Ich komme heute Abend. So ist das – die Leute sind dort im Allgemeinen sehr verschlossen.“ Und natürlich stellt Peter Schwartz fest, dass die Russen nicht so pünktlich sind wie die Deutschen. „Man muss den Arbeitern immer wieder sagen, dass sie arbeiten müssen. In Deutschland gibt man ihnen eine Aufgabe und das war's, man kontrolliert sie nicht. Die Menschen hier verhalten sich anders“, teilt er seine Erfahrung mit.

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Der Segler stellt fest, dass sich die Region in den 30 Jahren, in denen er in Kaliningrad lebt, zum Positiven verändert hat. Außerdem hat er sich in diese Orte wegen des Meeres, der schönen Natur und der Ökologie verliebt: „Es ist hier ziemlich sauber, weil es keine großen Fabriken gibt“, bemerkt er.

Auf die Frage, warum Ausländer nach Russland ziehen könnten, antwortet er: wegen der Freiheit. „Hier gibt es so viel Freiheit, dass es für einen Europäer schwer vorstellbar ist. Dort braucht man überall eine Genehmigung, hier ist es einfacher. Ich kann zum Beispiel mit einer Yacht fahren und ankern, wo ich will. In Deutschland kann man das nicht machen.“

Seiner Meinung nach gibt es in seinem Heimatland zu viele Verbote und eine Menge Bürokratie. In Russland gebe es viel mehr Freiheit, aber die Menschen hier wüssten das nicht zu schätzen, sagt er.

Schwartz sieht seine Zukunft in Russland. Vom Leben hat er, wie er sagt, alles bekommen, was er wollte. Und deshalb bereut er es nicht, in Russland geblieben zu sein. „Ich habe eine Lieblingsbeschäftigung, ich habe ein Haus gebaut und einen Baum gepflanzt. Wir haben zwei Söhne und vier kleine Enkelkinder, vier! Ich will noch fünf oder sechs Jahre arbeiten, und dann nur noch das Meer.“

Der Artikel wurde ursprünglich auf Russisch von Tatjana Rettling für die Zeitschrift „Názija“ (dt.: Nation) veröffentlicht.

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