Was bedeutet „awóss“ und warum rettet es die Russen in den verzweifeltsten Situationen?

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Die Russen haben das fast unübersetzbare Wort „awóss“, das eine Schlüsselrolle in ihrem Leben spielt. Sie verlassen sich stets darauf und es ist zu einem Merkmal ihres nationalen Charakters geworden.

Das Wort „awóss“ lässt sich nicht so ohne Weiteres in andere Sprachen übersetzen, denn es hat eine Fülle von Bedeutungsschattierungen und eine sehr emotionale Färbung. Es ist immer ein Ausdruck der Hoffnung auf Glück, auch wenn die Chancen dafür schlecht stehen. Es bedeutet Hoffnung und das Vertrauen auf die Hilfe Gottes und übernatürlicher Kräfte.

„Awóss“ kann sowohl als Partikel als auch als Substantiv verwendet werden. Der Partikel „awóss“ bedeutet „vielleicht“ und wird vom Sprecher verwendet, um seine Hoffnung auszudrücken: „Aвось не поймают!” (Awóss ne pojmájut, dt.: Sie werden mich schon nicht schnappen, Vielleicht werden sie mich nicht schnappen). Als Substantiv, z.B. „надеяться на авось” (nadéjatsa na awóss, dt.: auf einen Durchbruch hoffen) drückt es auch Hoffnung aus – die Chance auf Glück, obwohl diese auch sehr klein sein mag.

Ein Student, der unvorbereitet zur Prüfung kommt und hofft auf ein „awóss“. Ein Krimineller, der einen Laden ausgeraubt hat, denkt, „Sie werden mich schon nicht schnappen”. Ein betrunkener Ehemann kommt nach Hause und hofft, dass „seine Frau schon nichts merken wird“. Ein Mann geht zum Eisangeln und denkt: „Das Eis wird schon nicht brechen“.

Das Wort „awóss“ war früher sehr oft im Leben der Bauern zu finden. Der russische Muschik tat buchstäblich alles „na awóss“: Wenn er die Felder bestellte, dachte er „awóss schto-to prorastjót“ (mit etwas Glück wird schon etwas gedeihen), wenn er sich auf den Winter vorbereitete – „awóss chwátit sapásow jedý“ (mit etwas Glück werden die Nahrungsreserven ausreichen), beim Glücksspiel – „awóss powesjót“ (ich werde bestimmt Glück haben) und wenn er sich, wie so oft, etwas ausborgte – „awóss budet tschem otdátj“ (vielleicht kann ich es ja wieder zurückgeben).

Warum hoffen die Russen auf „awóss“?

Der Begriff „awóss“ bedeutet seit jeher die Hoffnung auf Gott. Die Russen sind sehr abergläubisch, deshalb kann man nicht einfach sagen: „Wenn der Weizen keimt“, denn man darf nichts beschreien. Und der Zusatz „awóss“ bedeutet „Gott wird‘s geben“.

Auch der Adel benutzte diesen Ausdruck. So schreibt zum Beispiel Iwan Turgenjew in einem Brief: „Авось Бог поможет мне выехать отсюда в пятницу - и авось я Вас увижу в субботу (dt.: „Gott geb‘s, dass ich am Freitag losfahre und wir uns am Samstag sehen“). Es gab keinen zwingenden Grund, warum er nicht am Freitag abreisen und am Samstag sein Ziel erreichen sollte, aber es scheint, er wollte es nicht beschreien.

In der Sowjetzeit gab es die berühmten Einkaufsbeutel mit dem Spitznamen „awósska“. Sie wurden für ihr praktisches und schönes Design geliebt und sind inzwischen wegen des Trends, auf Plastiktüten zu verzichten, inzwischen wieder sehr beliebt. Tatsächlich aber war die Bezeichnung „awósska“ ironisch gemeint. Mit diesen Einkaufsbeuteln gingen die Menschen zum Wochenmarkt in der Hoffnung, etwas zu ergattern. „Авось-ка я что-нибудь в ней принесу“ (Awóss-ka ja schto-nibúdj w njej prinesú, dt.: Mit etwas Glück bringe ich in ihr etwas nach Hause), scherzte der populäre sowjetische Humorist Arkadij Raikin. Die Russen ziehen das Glück magisch an...

Funktioniert das russische „awóss“?

Das Wort „awóss“ taucht in vielen Sprichwörtern auf. Sie sind so gestaltet, als wolle man den Menschen die haltlose Hoffnungen auf unbekannte höhere Kräfte, die ihnen zur rechten Zeit Glück bringen sollen, abgewöhnen: „Держись за авось, поколе не сорвалось” (Derschís sa awóss, pokólje nje sorwalós, dt.: Vertraue aufs Glück, solange nicht alles misslungen ist) , „Авось и рыбака толкает под бока“ (Awóss i rybaká tolkáet pod bóka, dt.: Mit viel Glück kann man auch einen Angler aus der Ruhe bringen); „На авось казак на конь садится, на авось его и конь бьет“ (Na awóss kasák na konj sadítsja_ na awóss jewó i konj bjot, dt.: Wenn der Kosake sich betrunken aufs Pferd setzt, schhlägt das Pferd nach ihm aus). All dies kann man mit einem auch heute noch populären Sprichwort zusammenfassen: „На Бога надейся, да сам не плошай“ (Na Bóga nedéjsja, da sam nje ploscháj, dt.: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott).

Die Russen gehen auch jahrelang nicht zum Arzt, weil sie darauf hoffen, dass das Problem sich von alleine klären wird. Kürzlich forderte sogar Wladimir Putin die Menschen auf, Verantwortung zu übernehmen, und sagte in seiner Ansprache an die Nation, man dürfe in der Situation mit der Coronavirus-Pandemie nicht auf das russische „awóss“ hoffen.

Aber das Interessanteste am russischen „awóss“ ist, dass übernatürliche Kräfte tatsächlich oft helfen! Wie ist es sonst zu erklären, dass unvorbereitete Studenten die Prüfungen bestehen??

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